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- Absage einer Dialektveranstaltung wegen diskriminierender Äußerungen der Organisation
Vorige Woche erreichte die Morgenschtean-Redaktion ein Anruf des Innviertler Dialektdichters Hans Kumpfmüller. Das Stelzhamerhaus in Pramet (OÖ) hatte ihn eingeladen, Dialektlyrik zu lesen und darüber hinaus gebeten, er möge eine:n Musiker:in zur Begleitung vorschlagen. Hans Kumpfmüller entschied sich daraufhin für den Akkordeonisten Yevgenij Kobyakov, der bisher nicht nur bei zahlreichen Festivals angetreten ist, sondern auch als Jurymitglied bei internationalen Akkordeonwettbewerben im In- und Ausland tätig war. Nachdem man sich im Netz Kostproben ihres Schaffens angehört hatte, meinte die Kuratorin des Kulturvereins in einem Mail an den Organisator der Veranstaltungen: Ja eh sehr gut, aber eben Balkanmusik . Wahrscheinlich hätte man sich in einem Mail direkt an Herrn Kumpfmüller anders ausgedrückt, doch die Nachricht wurde vom Organisator an den Dialektdichter weitergeleitet. Ganz abgesehen von der diskriminierenden Ausdrucksweise im Mail wurde – ohne Rücksprache mit dem Lyriker zu halten – schließlich ein lokaler Musiker als Begleitung für die Lesung gewählt. Hans Kumpfmüller zog daraufhin seine mündlich erfolgte Zusage wieder zurück. Natürlich hat jede:r Veranstalter:in das Recht, vorgeschlagene Musiker:innen abzulehnen oder auch im Vorfeld eigene Vorstellungen anzubringen. Es kann jedoch nicht sein, dass Musiker:innen mit Migrationshintergrund abgelehnt werden, weil sie nicht österreichisch genug klingen. Gerade der „Balkansound“ hat in Österreich Tradition, einige unserer besten Musiker:innen stammen aus Südosteuropa sowie auch aus Russland, der Ukraine oder Moldawien. Musik ist Geschmacksache – und Geschmack kann und darf sich wandeln, so wie auch der Dialekt selbst. Gerade die Arbeit der Kulturvereine trägt – im Idealfall – wesentlich zu mehr Offenheit und Toleranz innerhalb unserer Gesellschaft bei. Was gibt es Schöneres, als die Kombination aus einem „gstandenen“ Innviertler Dialekt, wie Hans Kumpfmüller ihn in seinen Gedichten bedient, mit den osteuropäischen Klängen eines Akkordeons? Dialekt darf nicht dazu dienen, ein neues „Mia san mia“ heraufzubeschwören. Die Autor:innen der Ö.D.A. haben sich in ihrem Schaffen stets gegen jede Vereinnahmung des Dialekts durch rechtes Gedankengut, gegen Heimatverklärung und Heimattümelei gewehrt. Pramet ist Geburtsort von Franz Stelzhamer. Der Mundartdichter und Verfasser der oberösterreichischen Landeshymne („Hoamatland, Hoamatland! / han di so gern / Wiar a Kinderl sein Muader / A Hünderl sein' Herrn“) ist heute mehr als umstritten, immerhin war Stelzhamer glühender Antisemit. Die „Balkanmusik“ hätte wohl auch er abgelehnt, soll er selbst einst gemeint haben: “Graz und seine wendisch-kroatischen Gesichter und Figuren wären nicht für mich zum längeren Genuße und Anblick.“ [1] Aber auch dieser Vers stammt – wie Hans Kumpfmüller erinnert – von Franz Stelzhamer und spiegelt dessen eigentliche Einstellung zu seinem Heimatland wider: „Ein Österreicher bin iAus’m Österreicher Land Das ist zwar kein Unglück Aber doch is’s a Schand.“ [2] Gerade in Pramet, gerade im Stelzhamerhaus wäre eine Diskussion über Franz Stelzhamer, über seine Hymne, über die Bedeutung von Dialekt in der Literatur im Allgemeinen also eine spannende und notwendige Sache. Die Kombination Hans Kumpfmüller und Yevgenij Kobyakov wären ein schönes Zeichen gewesen – ein Zeichen für Toleranz und Offenheit. ____________________ Anmerkungen 1 Ludwig Laher: Vom Aussaugen und Kopfabschlagen – Ergänzende Bemerkungen zu Franz Stelzhamer http://franzstelzhamer.at/Pdf/Laher.pdf 2 Anton Kuh: „Der Unsterbliche Österreicher“ (Knorr & Hirth, München 1931), S.8. https://www.pd.republicdomain.net/pd/1941/Anton%20Kuh/Der%20unsterbliche%20Österreicher/DerUnsterblichesterreicher.pdf
- Max Faistauer wurde 90
Im Dezember feierte Max Faistauer seinen 90. Geburtstag. Die Gedichte des Pinzgauer Dialektdichters sind seit vielen Jahrzehnten überregional bekannt, sie sind nicht nur in Büchern und Zeitschriften erschienen, sondern waren auch in diversen Sendungen im ORF sowie im Bayrischen Rundfunk zu hören. Auch als Vermittler und Förderer von Dialektliteratur hat sich Faistauer einen Namen gemacht, 1972 etwa gründete er – gemeinsam mit August Rettenbacher und Erwin Rutzinger – den Arbeitskreis »Regionale Sprache und Literatur« im Salzburger Bildungswerk, außerdem war er Mitgestalter vieler überregionaler Leseabende für Dialektliteat:innen im Raum Salzburg und Bayern. Auch an Schulen hat Faistauer immer wieder Workshops für Dialektdichtung abgehalten. Am 11. Jänner fand ihm zu Ehren im Salzburger Bildungswerk eine Lesung statt, bei der er nicht nur aus seinem eigenen Werk vortrug, sondern auch aus seinem Leben erzählte. Die Lesung wurde musikalisch umrahmt. Hier ein paar Eindrücke von der Feier – die Fotos wurden uns von Gerlinde und Gerd Allmayer geschickt. Wir gratulieren nochmals herzlich!
- Morgenschtean U82-83
erscheint am 28. November 2024 "KNEDL, GERSCHTL FLIEDA – Auf der Suche nach dem (großen) Geld" Neben 18 Dialekttexten aus ganz Österreich zum Thema rücken wir diesmal auf insgesamt neun Sonderseiten das Bundesland Kärnten in den Vordergrund. Außerdem erwartet Sie ein dreiseitiges Interview mit der Lyrikerin, Autorin und Schauspielerin, Rezka Kanzian – in der PDF-Beilage gibt es dann weitere Interviews mit u.a. Axel Karner, Elisabeth Hafner und Anna Maria Lippitz. > zu den Autor*innen der Ausgabe PRÄSENTATIONSTERMINE SIEHE AUF morgenschtean.at
- DialektSHOG#1 vom 20.06.2023 zum Nachhören
In der Radiosendung „DIALEKT-SHOG“ präsentiert die Morgenschtean-Redaktion gemeinsam mit dem Grazer Autorinnen und Autoren Kollektiv (GRAUKO) nun 4 x im Jahr moderne Dialektliteratur aus Österreich. Die Sendungen sind immer auf Radio Helsinki zu hören - und landen anschließend im cba-Archiv der freien Radios. Sendungsbeschreibung: In der ersten Folge konzentrierten wir uns auf Steirische Autor*innen und Musiker*innen, die den Dialekt in ihr Schaffen einfließen lassen. Im letzten Drittel der Sendung gab es dann noch einen Ausblick auf die Dialektlesung am 20.6.2023 in der Steiermärkischen Landesbibliothek mit Isabella Krainer, Katharina J. Ferner und Michael Stavarič. Außerdem hörten wir das neu erschienene Lyrik-Album „fauschaun – farena – fagee“ von Eva Lugbauer hinein und gaben Einblicke in das 2. Album des Duos „Andyman“ Durch die Sendung führten diesmal: Peter Heissenberger, Isolde Bermann und Margarita Puntigam-Kinstner Wir bedanken uns für die zum Teil noch unveröffentlichten Text- und Musikbeträge, die uns von den Autor*innen / Musiker*innen zur Verfügung gestellt wurden. literarische Beiträge Wittrich: „Da Nogl“ (mit Musik von Niki Waltersdorfer, Produktion: 1ste Grazer Lesebühne, 2020) Isabella Krainer: „Mei Oide geht haggln“ Kuno Kosmos: „Die Federleichte“ / „Das Lied der Federleichten“ Veronika Unger: „Die Buche“ Mario Huber: „Buddha“, „Willkommensfest“, „Resch und Frisch“, „Bus-Chauffeur“ (https://www.mario-huber.at/) Franziska Pronneg: „Mei Haut – dei Haut“ (aus: Morgenschtean U76-77/2023) Eva Lugbauer & Duo zoat: „faschaun“ (aus dem Album „fauschaun – farena – fagee“, Volkskultur NÖ, 2023, https://www.volkskulturnoe.at/produkt/faschaun-farena-fagee/) Katharina J. Ferner, Michael Stavarič: „no und wearand und olawäu zwischn ana sindflud“ (Ausschnitte aus dem Zyklus nach H.C. Artmann, erschienen 2020 in der Zeitschrift SALZ) Harald Letonja: „Nimm den Taunz“ (eine Interpretation von Leonard Cohens Take this walz) Franz K.: „I bin dei Mau“ (aus dem Demo-Album „Taunz Ma, Franz K. Singt Cohen“, 2018) Pandoras kleine Schwester: „Da Klane Rotzbua“ (aus dem Album „Titanic“, produziert von Fabio Schurlschuster „Die Mischerei“, 2023) Andyman: „Lemoniberg“ (aus dem Album „Lemoniberg“, Preiser Records, 2023, EAN: 0717281916134) > zum nächsten Termin sowie allen bisherigen Sendungen
- DialektSHOG #2 vom 17.09.2023 zum Nachhören
Hat Dialekt mit Poesie zu tun oder nicht? Welche politische Verantwortung tragen Dialektautor:innen? Und welche Bedeutungen haben literarische Traditionen bzw. welchen Einfluss übt die Wiener Gruppe auch heute noch auf Schreibende aus? Diesen Fragen gingen wir in der zweiten Ausgabe unserer 7 shades of Grauko-Sondersendung „DialektSHOG“ nach. In der zweiten Folge geht es um Motivationen. Warum wird Literatur im Dialekt geschrieben? Hat Dialekt mit Poesie zu tun oder nicht? Welche politische Verantwortung tragen Dialektautor:innen? Welche Bedeutungen haben literarische Traditionen heute noch? In der Sendung wird es Auszüge aus dem Essay „wia pikn oiso zaum. Warum Dialektpoesie keine eigene Kategorie sein muss, sondern einfach poetisieren kann“ von Katharina J. Ferner zu hören geben, der 2020 im Wespennest erschien. Über seine kritische Antwort, die 2021 in der Zeitschrift perspektive abgedruckt wurde und den Titel „… und Dialekt hat nichts mit Poesie zu tun“ trägt, wird sich Margarita anschließend mit dem Autor und Literaturwissenschafter Mario Huber unterhalten. Nachgefragt wurde außerdem bei der Tiroler Autorin Siljarosa Schletterer , die uns aus der Ferne ein Statement zukommen ließ. Rund um die Beiträge erzählen Kuno Kosmos und Harald Letonja, wie sie zum Dialekt bzw. zur Dialektliteratur kamen und wie sie das mit dem Dialekt und der Poesie sehen. mit Tonaufnahmen der Autor*innen: Siljarosa Schletterer: (Gedicht: „zemmbach“) Katharina J. Ferner (2 Gedichte aus dem Band „krötentage“, Limbus Lyrik, 2022, S. 65, 70-71) Mario Huber: „Hock“/ „Ockahian“ // „Rumäna“ / „Neiche Chefin“ / „Obn aufm Berg // Ma woaß jo ned / Haus Kuno Kosmos: „Kreizung“ / „Hin oisa Gaunze“ Harald Letonja: „Die Barmherzigen Schwestern“ (Leonard Cohens sisters of mercy im Grazer Dialekt, Demo) sowie Beiträgen des verstorbenen Autors Bernhard C Bünker aus folgenden Sendungen: – Vorwort zur Fettfleck-Sonderausgabe aus dem Jahr 1979, gelesen von Alfred Woschitz in Ewigkeitsgasse TV #15 Link zur Sendereihe: https://ewigkeitsgasse.at/ YOUTUBE: – „Tusch II“ aus der Sendung „Lei gschpian … koj čut´t“ von Radiorosta am 08-07-2023 auf Radio Agora, Link zur Sendung: https://cba.fro.at/626130 – „Des Fest“ / „Hamat II“, gelesen von Bernhard C. Bünker, aus. Lei nit lafn onfongen“ Verlag van Aacken, 1988 Musik: Christina Zurbrügg: Dobratsch Yodelling Erika Stucky: „Zäuerli“
- »Ruhe und Stillstand sind dir beides Fremdwörter« – zum 65. Geburtstag von Heinz Wolf
Lieber Heinz, es scheint, du gehörst zu jenen Glücklichen, die offenbar schon früh wussten, was sie (beruflich) wollen. Rufen manche Eltern ihren Kindern zu: Macht bloß kein Theater , so hat man dir das erst gar nicht sagen müssen. Du hast das gleich zu deinem Beruf gemacht, hast Theatermaler gelernt und bist Sto- ryboarder und Illustrator geworden. Du hast das Kabinett für Wort und Bild gegründet. Und du bist auch dem Dialekt im geschriebenen Wort verbunden, hast Moritz, Max und Peter (dem mit den Struwweln) das Wienerische auf den Leib gepinselt, hast »schwozze Lecha« umschifft und dich der »Affenschinderei« angenommen. Du hast schon im Jahr 2008 Fußballhelden »rotsehen lassen«, was in Anbetracht aktueller Ereignisse rund ums Nationalteam nahezu prophetisch war. Und du bringst seit Jahren die Leser*innen vom Morgenschtean mit deinen Cartoons zum Schmunzeln. Und nein, »Essen wie im Häfn« ist nicht dein Ding, lieber im wohligen Ambiente eines Wiener Cafés am Wienfluss gemütlich speisen, am liebsten am Tisch 14. Und auch wenn dein rundlicher Geburtstag eine Zahl anzeigt, die man mit Ruhestand assoziiert, so hat das bei dir wohl kaum seine Berechtigung. Ruhe und Stillstand sind dir beides Fremdwörter. Zu unsrem Glück. Denn das lässt uns auf viele weitere Grafiken von dir hoffen, die uns zum Lachen bringen, und gleichermaßen dazu führen, dass das Lachen im Halse stecken bleibt – weil sie so genial den Finger in die gesellschaftliche Wunde legen. Und wenn du im Augenblick auch aus Kartons lebst – so wünschen wir dir, dass du auch weiterhin für deine Cartoons lebst, und außerdem wünschen wir dir: Happy Birthday! Und ois Guade!! Robert Anders (Dieser Beitrag erschien auch in der Beilage zur Ausgabe U82-83 )
- Eine Annäherung an den Loosdorfer Dialektlyriker Walter Seisenbacher (1951–1983)
von Mario Huber Mit herzlichem Dank an Traude Seisenbacher für ihr Einverständnis, Seisenbachers Gedichte in diesem Umfang verwenden zu können Irgendwo fremd zu sein ist auch ein Vorteil. Wenn die Dinge sich nicht sofort in verwandten Bahnen bewegen, Kauz und Kuckuck schreien und der aufgetischte Schotter unter den Reifen knirscht. Langsamer werden, Radio aus, Fenster runter. Warten und nachdenken – und sich fragen, wo man da eigentlich gelandet ist, mit seinen verstaubten Kotflügeln. Die überschaubar wenigen Gedichte von Walter Seisenbacher (1951–1983) aus Loosdorf in Niederösterreich sind in diesem beweglichen und zugleich festgefahrenen Sinn fremd. Gehen fremd. Fremdeln. Sind weit weg vom gewöhnlichen Heimatverklären der gängigen Dialektliteratur. Damals und heute. Ein Gedichtband, ein paar verstreute Texte in längst vergessenen Literaturzeitschriften graben in der Wildnis des österreichischen Sprechens und Denkens ihre Bahnen. Eine unbegreifliche, abhandengekommene Welt wird dem Verstehenwollen ausgesetzt, ihre Aufnahmebereitschaft hält sich aber bedeckt und hütet sich. Lüftet nichts, nicht einmal zum Gruß. Seisenbachers Welt ist sehr kalt: Hier hört und sieht und fühlt niemand jenseits der eigenen Körpergrenze. Und wenn doch, dann hat er oder sie es gefälligst für sich zu behalten, Passierscheine werden nicht ausgegeben. Probieren kann man es ja trotzdem. Begleitet wird jede Aufzeichnung der Übertretungsversuche von Frage- und Rufzeichen. Antworten bleiben aus oder sind verheerend. Irgendwo ist die Kette schon lange gebrochen. probias amoe aus! probias amoe aus waunz da recht drekig ged und schtöö di mitn untad leid und los aussi deine uakrämpf und schrei: höefz ma! i brauch wen! oda: probias amoe aus waunz da recht leiwand ged und schtöö di mitn untad leid und loch an jedn ins gsicht und schrei: waunz wen brauchz – i, i hüf eich! probias amoe aus probias amoe aus und i garantia da: so oda so: de fian de afoch o. [1] Die nicht einmal 60 veröffentlichten Texte Seisenbachers zeigen ein einseitiges Sprechen, ein Redenwollen, bei dem nur der Durchschlag weitergereicht wird oder das Gegenüber längst weitergeblättert hat. Keine Widerrede wird gegeben, das Befolgen von Regeln steht im Mittelpunkt der Familienbilder mit Diwan und Psyche. Vor allem dieser Erbkern zieht seine Kreise, in allen Farben eines sehr ungemütlichen Regenbogens. wos a kind heitzudog oes gsogt kriagt du, mia foan jetz! und waasd eh: waunz finzta wiad, gesd schloffn! los ned den küschraunk offn! mid mixa schbün is gfealich! bleib imma braf und ealich! fagis a ned aufs woschn! du waasd, du soesd nix noschn! moch uadnung in dein zimma! den lula brauch ma nimma! und wosch da a dein hoes! (da libe gott siach oes) und schoet den feanseha oo! und bitte gee aufs kloo! und leg di pünktlich nida! zum frühschtük siaxt unz wida! tschüss! [2] Wie die andere Seite der Ermahnungen und Drohungen schließlich damit umgeht, ist im einzigen, postum veröffentlichten Gedichtband Grauer Schmetterling , gleich auf der folgenden Seite nachgezeichnet. Eingedenken in den Familienbenjamin, der die Vorerfahrenen in sich und auf sich zu spüren bekommt. Die Angst vor der Hilflosigkeit der Eltern, die Angst vor der nicht gewürdigten Anstrengung, vor der vermutlich mundabgesparten Gabe, treibt ihre schlumpfigen Früchte. gebuazdog a duatn – a hosn und schlumpfi a poa da foda is bsoffn und foad ma duachd hoa a mädschbox – a biachl: „schlumpfi schlumpfd am zaubersee“ die mama mochd benco und fian fodan an kafee a lego – a füzschdift a schlumpfiquardett mei schwesta hod kopfwee und ligt scho im bett owa i, i muas aufbleim und mi gfrein wia a noa sunst griag i a dädschn (so wia im furign joa) [3] Später wiederholt sich die Szene wieder und wieder, durchaus mit wechselndem Personal. Die überantworteten Hülsen einer zur Schau getragenen Meinung stanzt da auch ein Lehrkörper in das zu prüfende Gefäß. Ein Loch ist im Eimer, i bin fola lecha [4] nennt Seisenbacher ein Gedicht. In Klassenräumen und ähnlichen Kämmerlein ist das Sprechen des maßgeblich Versiegelten schon so weit gediehen, dass die hingerotzten Gemeinheitsplätze ungefiltert zurückgeechot werden. Der Beruf führt verschließlich zur Einberufung. de leazeid is ka leere zeid! in meina leazeid haums ma lauta wichtige sochn beibrocht! zum beischbüü waas i jetz: das mei masta imma recht hod, und das de geweagschoft imma liagd. das unsa bedribsrod schau long nimma gwöed kerad, und das da schef a neiche freindin hod, und das de freindin unsa leamensch is! i waas jetz aa: das de leabuam muazdrum frech san, das de tschuschn schdöen und liang dan, das aum heisl imma graugt wiad, und das ma fia de übaschdundn kan groschn mea zoed griang! und das unsa geweabe aum saund is, und das ma woascheinlich e boed zuaschbean kenan – und das ma olle midanaunda sowieso de ewig augschmiadn san – das waas i jetz aa! in mein gsöenbriaf schded: i hob mein "Lehrziel mit Erfolg erreicht"! [5] Doch noch ein Schmunzeln, vielleicht. Angekommen, erreicht, ja. Eine Auskunft darüber, wo das jetzt ist, lässt sich aber weder ergattern noch ergaunern. Vielleicht doch umkehren? Eine Wurzel des Kreislaufs, der das sündige Denken in den sündigen Körper leitet, ist auch in der niederösterreichischen Pampa die katholische Kirche. Dort werden die sündigen Taten, die sich über die sündigen Hände, Finger und das wahnwitzigste aller sündigen Glieder in die Welt ergießen, erst frisch hergestellt und rissverpackt mitgenommen. Alpha und Romeo, lebenslange Garantie. Glaubt man den Aufzeichnungen von Trude Marzik, die Seisenbacher einige wenige Jahre mit unterstützenden Worten und Briefen begleitet hat, war allem Vorbehalt zum Trotz ein gewisser Pater Michael ein Freund der Familie. [6] Ein typischer Widerspruch im Land der TöchterSöhne, der sich gut zum Versteigen eignet. Das lassen wir aber. mid da tauf faungz au kaum woar i auf da wöed, haums mi gschnappt und in a kiachn drong und tauft. oba i hob ned woen. und rechd gschdramped. und laud gschrian. da pforra hod glocht! de mama hod glocht! de fawaundn hom glocht! da papa hod fotografiat. und jetz auf amoe woar i a grist! reingwoschn. unschuidig. sindnfrei. und wäu i jetz a brafa grist woa, hob i betn gleant. hob i a schuzengal griagt. hob i fom himmifata dramd. und wäu i jetz a brafa grist woa, haums ma gsogt: walta, waunzt aufs topal gest, schbüü di jo ned midn lulu! und ois brafa grist bin i in da schui in religionzuntarichd gaunga: lauta remische ansa! und oes brafa grist waor i natüalich a ministrant: mia radschn, mia radschn den himmlischen gruas... und ois brafa grist hob i a schlechz gwissn kobt, waun i ma hamlich im doktabiachl a nokate frau augschaud hob. und ois brafa grist hob i ma nie draud das i a mal augreif und zoat schdreichld. und ois brafa grist hob i kiachlich und jungfräulich keirat. und ois brafa, brafa grist hob i mei kind sofuat taufn lossn! oba, schdöezz eich fua: dea bua hod ned woen. dea hod rechd gschdramped! und laut gschrian! i hob e a poa foto gmocht. woaz, i zags eich schnöö. wo hob is den? ... wo hob is den? [7] Der Vater, der Sohn, der heilige Kreis. Eine Biografieangabe, eine verendende Geschichte im dunklen, heimischen Nestbeschmutzungsgang. Man tut eben, was sich gehört, wann es sich gehört und mit wem es sich gehört. Gefühlt wird, ja, aber mit den Händen immer in Sichtweite. Was hinter den geschlossenen Türen für Anstalten gemacht werden, wer dann da wirklich was tut, das übergeht man lieber. Wer bei Seisenbacher spricht, ob er seinen eigenen Abgekommenen beobachtet oder ob er sich in seine eigene Kinderstube zurückdenkt, bleibt offen. Zeit spielt eine untergeordnete Rolle in diesen Texten, kommt doch alles alles alles immer immer immer wieder wieder wieder. Kreiselt, bis es eben nicht mehr geht. mei klane schwesta mei mama woa im schbidoe und wias zrugkumma is hoz a klans puzal midbrocht. des is dei schwestal hoz gsogt: des muast geanhaum. mei mama is jetz gaunz aundas. den gaunzn dog und de hoabate nocht drogz des puzal umadum! oba fia mi, fia mi, hoz ka zeid, hoz ka zeid mea, fia mi... maunchmoe, waun de mama gschwind in d kuchl ged renn i zum kindawong und zwik des puzal gaunz fest in de waungan oda reiss be de fiass oda faschdek eam in lula. daun faungz au zum plazzn, bis de mama kummt, und de mama schreit a: los des puzal in rua!! dea den puzal ned weh!! des puzal is noo zklaa zum schbün! gee in dei zimma! waun do de mama daumoes ned in des komische schbidoe gfoan waa! i wia mei klane schwesta nia geanhaum kenna … [8] Der will doch nur spielen, reimt mann und frau sich händeringend zusammen, damit die Welt sich nicht in bessere übergeben muss. Kurz zusammengeschlagen. Der Kreisel eiert, er zeigt auch Veränderungen. Nicht alles bleibt, wie es ist, manches wird sogar schlechter. Dabei gibt es immer wieder Versuche, jemanden in die eigene Wahrnehmung einzuladen. Mal zeigend, mal hinweisend – es ändert sich viel, gebaut muss schließlich werden. Gerade am Land, wo doch so viel Platz ist. Woher wüsste man überhaupt, wie Natur auszusehen hat, wenn es nicht den BillaSparHoferMondoparkplatz gäbe? i zag da wos: schau! duat om. zwischn de heisa, des schdikl weis – des is a woekn! schau! duat zwischn da schtrossn, des schdikl grea – des is a gros! schau! duat hintn, wos des neiche kaufhaus baun – des woa bis jetzt a pak! schau! gschwind schau! a eichkazal. a eichkazal … odar woas a rozz? [9] Zwischen den ganzen Anrufungen, von Bonifatius bis weiter unten im Heiligenlexikon und den ausgebliebenen Antworten von weit näher am Herzen und Ort des Huthinhängens kommen dann doch kleine Oasen des Miteinandersprechens. Aber die Antwort, die man möchte, muss man sich erst zurechtschnitzen, wenn man nicht schnell die Fenster wieder hochkurbelt, hochkurbeln muss, und sich unter den Scheibenwischern versteckt. Dieses Witschwatsch und Zischkrach hinter der Scheibe ist zumindest bekannt. easchte libe mia maum a mal in da klass. de mizzi is. aus sizzntoe. waun mi de auschaud, wiad ma haas. de mechd i heiratn amoe! si schaud so wiar a fümschdaa aus – de wangal rod, de zepf so laung. heit hauma zwaa schdunt frira aus – i gee in park, woad auf da baung … und waunz fabeikumd, schpring i auf. und schrei: mizzi! sizz di hea zu mia! jo kumsd den ned fa söeba drauf wia grosse sehnsucht i faschbia? i schdee auf dii! i hob di gean! du bist mein traum, mein lebn. du muast amoe mei weibal wean! i wia da ollas gebn! do fliang de zepf! und di mizzi locht! si schaud mi gliklich au. und daun sogz: guat is! obgemocht: du wiasd mei easchta mau! [10] Die Enttäuschung ist groß, erster sein zu dürfen, liest man in den Text rein, wenn man ihn neben den anderen röntgt. Ein läufiges Leben steht in den Kinderbeinen und dazwischen also im Melker Umland schon fest. Welchen Unterschied ein Wörtchen machen kann. Schweigen wäre [unleserlich]. Eins, zwei, drei: Zählbar wird das Leben viel zu leicht und damit schwer, auch wenn es um andere Freundschaften geht. meine habara untatitl: da egon, da schual und da bert – a so a freindschoft is wos wert! […] und wos ma de weat is, des sog i eich aa: im gaunzn schau sex hundata!! [11] Geburt, Kindheit, Ausbildung, Kirche, Liebe, Freundschaft: Wenig bleibt, was hier dem Dasein zugutegehalten werden kann, wie es scheint. Kalt ist’s hier, wie gesagt, ziehen tut’s, gerade hin und weg vom Herzen. Denn die Wegweiser kann man durchaus umdrehen, sich gegen sich selbst richten, erstmal in der sanften, nicht der vorwegnehmenden Art und Weise. Der Versuch der Selbstbesserung, ver und überhaupt, eines Ausbrechens aus dem ewigen Kreisen und Bausparvertragseinzahlen. medidation waun i meditian wüü daun moch i oes easchtas imma de fenzta zua und gib de rollo oba. daun zint i a poa keazzn au und a poa indische reichaschdabal und an glan kessl mid an weirauch. daun moch i an tee leg a saunfte plottn auf und bind ma meine hoa hint zaum. daun ziag i mi um und hoe mei afghanische dekn und probia drauf den sünburmesischn lotusblütnsitz. daun les i noamoe noch im „großn jogabiachl“: wiar i sizzn muas wiar i otmen muas wiafüü zeid i hob und wo des dritte aug hinleicht. daun faung i au zum meditian... meditian des haast: ollas ringshearum fagessn. [12] Fast müsste einem beim Lesen ein Lachen auskommen aus der fast schon zugeschnappten Falle. Ertappt beim Einkaufen für zukünftige Heilsversprechen, fühlt man in der Meditation den eigenen Pulsverschlag. Wissen macht halt noch nichts, die Selbstbeobachtung führt nicht unbedingt in die Bedingungslosigkeit, denkt mann und frau vielleicht außensichtig. Vielleicht nochmals die Blickrichtung ändern, wenn man denn schon schoßige Wurzeln geschlagen hat. Den Feldstecher auf die anderen richten. Die Ablenkung, das Dazugehörenwollen, das Ameigenenstatusarbeiten kann doch ebenso ein Einrichten in der Welt sein. Endlich die Vielfalt erkennen, die man bis zum Ende wenn nicht in-, dann zumindest kohabitiert. da fäabige feanseha heit haum ma se an kaft. und jetz is eascht drei! oba unta da wochn faungt s feansen eascht um hoeba sexe au. (s testbüd is zwoar a schee fäabig – oba des wiad ma schau laungsaum fad) heit schpüns zeascht an französischkuas: paale fuze wuu? (in foabe!) daun s östareichbüd: (i bin neigierig, wia de klinga augschmiad is) nochhea: zeid im büd (s easchte moe a rotes bluat!) schbeda is a oeda heimatfüm. (in schwoazzweiss? – de oaschlecha!) daun is no da club zwaa (ob da nenning schau graue hoa hod?) und nochhea? is leida schluss. hofndlich gibt dea klane gschropp oba heit a ruah! [13] Aber auch hier wieder Überforderung, abdriften, wegdriften, der einzige Wunsch, wie es scheint: den Sohn oder die Tochter, geschlechtslos im Angesicht des Herrn, aus den Augen und Gedanken verlieren. Wenn der Tank bereits leer ist, möchte man meinen, und auch sagen. Weiter weg, nicht nach innen, auch nicht nach außen blicken, wirklich die Beine in die Hand nehmen und in die echte Fremde, ein anderer Ort, eine andere Zeit fast. Eine bessere Vergangenheit, eine einfachere Zeit, die man sich zusammenreimt. Auch das passiert jenseits des üblichen Dialektheimatkitsches, mit dem Muatal am Herd und dem Vota mit der Pfeifn in der Stubn beim gemeinsamen Beten. Weg aus dieser fremden Welt, mit ihrem Konsum und ihrer Kälte, „FROMMer“ werden, wie Seisenbacher in einem Inoffiziellen Lebenslauf [14] schreibt, der in seinem Gedichtband abgedruckt ist und der stückelweise mehreren Briefen an Trude Marzik entnommen ist. Frommer im Sinne des Analytikers Erich Fromm, den er gerade gelesen hatte. Durch die Scheibe führt der Weg, vorbei an den Wischern, vorbei an der wirklichen Welt in eine zusammengesponnene, eine redaktionell bearbeitete, eine Abenteuerwelt. In erlesenes Sein. der ruf der wildnis i hob an füm gseng. im feansen, üba alaska. schdöez eich fua: duatn gibz heite no, in unsara modeanen zeid, trappa! foenschdöla! goedgroba! und woefsbluadige schlittnhund! genau a so wiar in de oedn biachl fom tschek london. i wüü jetz nimma fakeifa wean – beim hatlaua – so wia mei papa. i wüü a nima in i hechare schui, und rechd gschdudiad wean – wia sis mei mama oewäu eibüt … [...] i mechad fuat! waunz ged no heid. [...] (pfiad eich, leid) [15] Pfiad di. Das Ende von Walter Seisenbachers Leben muss nicht erzählt werden, die Minusrechnung der Jahreszahlen ergibt schon im Überschlagen das richtige, wenn auch tatsächlich falsche Ergebnis. Der löchrige Walter wird soweit eine Leerstelle bleiben. Seisenbacher, von dem Jörg Mauthe nur zu schreiben weiß, dass er unwissend neben ihm gesessen und ihn nicht kennengelert habe, weil er da war, „ohne auch nur einmal den Mund aufzutun“ [16] . Die Texte sprechen, mit ihrem eigenwilligen Sagen, ihrem um Verständnis ringenden Insistieren, ihrem Fragen und Rufen. Vielleicht findet sich auch heute noch kaum eine Antwort. Zumindest kann man die Anliegen weitergeben, durchreichen, bevor man sich seine Flügel putzt und in bekanntere Gebiete weiterfliegt. Gerade, wenn sie einem zunächst ein wenig fremd erscheinen. Literatur von Walter Seisenbacher Walter Seisenbacher: Grauer Schmetterling. Niederösterreichisches Pressehaus 1983. „i suach auf olle schdean“. Gedichte von Walter Seisenbacher. in: Wiener Journal November 1980, S. 20. [Texte: hüfe; i zag da wos:, de technik; mia brauchn kann kriag mea; epilog] Gedichte. in: das pult. literatur kunst kritik 59 (1981), S. 13. [Texte: i zag da wos; moxd mi nimma?; de technik] meine habara. in: Bakschisch. Zeitschrift für humorvolle und skurrile Texte 3 (1981), S. 21. buschwindröschen. in: Bakschisch. Zeitschrift für humorvolle und skurrile Texte 4 (1982), S. 60. i bin fola lecha. in: das pult. literatur kunst kritik 68 (1983), S. 69. Gedichte. in: HEIMATLAND. Literatur aus Österreich 4 (1988), S. 120-121. [Texte: schbed – oba do; duat in da wisn ligt ana] Literatur über Walter Seisenbacher Jörg Mauthe: Walter Seisenbachers Gedichte. in: Wiener Journal November 1980, S. 20. Trude Marzik: „Es muass do irgendwo an Weg gebn. Eine Dokumentation in memoriam Walter Seisenbacher“. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturachiv. Nachlass Trude Marzik (LIT 452/17/W17) 1 Grauer Schmetterling, S. 7. 2 Grauer Schmetterling, S. 24. 3 Grauer Schmetterling, S. 25. 4 das pult 68, S. 69. 5 Grauer Schmetterling, S. 43. 6 Trude Marzik, In Memoriam, o.S. 7 Grauer Schmetterling, S. 30-31. 8 Grauer Schmetterling, S. 28-29. 9 Wiener Journal, S. 20. 10 Grauer Schmetterling, S. 23. 11 Bakschisch 3, S 21. 12 Grauer Schmetterling, S. 9. 13 Grauer Schmetterling, S. 39. 14 Grauer Schmetterling, S. 64. 15 Grauer Schmetterling, S. 40-41. 16 Jörg Mauthe, Wiener Journal, S. 20.
- Zum 90. Geburtsag von Traude Veran
Ein Schreibtisch mit einem riesigen Bildschirm – das ist das Erste, was ins Auge sticht, wenn man das Zimmer von Traude Veran betritt. Im Jänner hat die Schriftstellerin ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert, jetzt besuche ich sie in ihrer freundlichen kleinen Wohnung im Seniorenwohnheim auf der Wieden. Eine prachtvoll blühende Orchidee am Fenster, auf dem Bett liegt schon das Plakat für die Literaturvitrine bereit, die Veran gemeinsam mit einer anderen Bewohnerin jede Woche neu gestaltet. »Ich schaue, dass am Abend immer alles bereitliegt«, verrät mir die Autorin schmunzelnd. »In meinem Alter weiß man ja nie, was der nächste Tag bringt.« Wir nehmen an einem Tisch Platz, auf dem eine elegante schwarze Teekanne bereitsteht. Verans Hände zittern ein wenig, als sie mir vom Tee einschenkt. Dass sie ihre zweite Leidenschaft, das Fotografieren, leider aufgeben musste, erzählt sie mir. »Für meine Lichtbildvorträge suche ich mir das Material jetzt meist aus der Bücherei zusammen. Die hat ja zum Glück viel zu bieten.« Manchmal gestaltet Veran noch einen solchen Vortrag – für ihre Mitbewohner:innen und andere Interessierte. Im Haus Wieden freut man sich über ihr Engagement. »Dass ich mich gern mit dem Grätzl, in dem ich lebe, auseinandersetze, hat begonnen, als ich noch im Haus Rossau in der Seegasse gewohnt habe. Dort habe ich von meinem Fenster aus direkt auf den jüdischen Friedhof geblickt. Ich wollte damals unbedingt mehr über seine Geschichte herausfinden.« Aus Verans privaten Recherchen wurde schließlich ein Buch. »Das steinerne Archiv – Der Wiener jüdische Friedhof in der Rossau« [1] erschien erstmals 2002 im Mandelbaum Verlag, vier Jahre später folgte die überarbeitete Zweitauflage. Auf beinahe dreißig literarische Veröffentlichungen kann Veran zurückblicken, außerdem auf zahlreiche Fachpublikationen, Sachbücher und Übersetzungen. Breitet man ihre Bücher auf einem großen Teppich aus, so wie ich das gestern getan habe, fällt sofort die Vielfältigkeit und auch die Experimentierfreudigkeit der Autorin auf. Mein Koffer ist mittlerweile ziemlich schwer – zu Hause in Graz will ich mich nämlich näher mit Verans Werk befassen. Heute jedoch möchte ich Traude Veran persönlich kennenlernen. Es ist nicht nur die Schriftstellerin, die mich interessiert, sondern auch die Psychologin und Sprachwissenschaftlerin, die für zwei Errungenschaften verantwortlich war, die mein eigenes Berufsleben als Pädagogin geprägt haben. Erstens: Das Integrationsgesetz für Schulen aus dem Jahr 1993, an dem sie federführend mitwirkte. Zweitens: Die Rechtschreibreform, die 1996 in ihrer ersten Form umgesetzt wurde, und bei deren Einführung sie sich beteiligte. Die Kraft der Worte Wenn du 1934 als Mädchen zur Welt kommst, ist dein Weg so gut wie vorgezeichnet. Deine gesamte Erziehung dient nur einem Zweck: Du sollst einen braven Mann finden, am besten eine gute Partie. Traude Verans Kindheitsjahre fielen in die Jahre der Nazi-Ideologie. Der große, der abscheuliche Krieg, der die Welt entmenschlichte. Vielleicht, denke ich, waren die fiktiven Geschichten ein bisschen wie ein unbeobachteter Schlupfwinkel, in den sich die kleine Traude zurückzog. Doch das Mädchen behält seine Phantasie nicht für sich, es lässt die anderen Kinder teilhaben. »Die Stimmung in den Luftschutzkellern war eine sehr bedrückende. Jeder hatte Angst und die Kleinen haben natürlich viel geweint. Meine Geschichten haben die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Die Kinder sind an meinen Lippen gehangen, dafür waren mir die Mütter dankbar. Ich weiß nicht, ob den Erwachsenen meine Geschichten genauso gut gefielen wie den Kindern, aber sie haben mir aufmerksam zugehört. Vielleicht wollten sie aber auch einfach nur sichergehen, dass ich keinen Blödsinn erzähle«, erinnert sich Veran lächelnd. Traude Veran (geb. Gertraud Kotrc) und ihre Mutter sind auf der Flucht vor den Bomben. Von Wien geht es zuerst nach Vießling in der Wachau und dann nach Krems, anschließend flüchten die beiden weiter nach St. Johann/Pongau. Das erste Gedicht, an das sie sich erinnert? »Das entstand während ich auf einem Lastwagen saß, auf unserer Flucht, mit den Tieffliegern im Rücken. Ein Gedicht über einen blühenden Apfelbaum war das. Ein schönes Gedicht eigentlich. Das war wohl der Selbsterhaltungstrieb.« Vielleicht hatte die Flucht am Ende etwas Gutes. Zwar habe sie sich anfangs in der Hauptschule in St. Johann furchtbar gelangweilt, da ihre Klasse in Wien schon wesentlich weiter gewesen sei, im Gegensatz zu ihrer Mutter habe die Schwester ihres Vaters ihr Talent jedoch erkannt. Ihre finanziellen Zuwendungen und ihr Zuspruch ermöglichten es schließlich, dass Veran die Ausbildung zur Sozialarbeiterin machen konnte. Im Dienste der Benachteiligten Nach ihrem Abschluss mit Diplom bewirbt sich die junge Sozialarbeiterin bei der Kriminalpolizei. »Ich wollte Polizeifürsorgerin werden, aber ich war um zwei Zentimeter zu klein für den Polizeidienst. Dass ich auch anderswo keine freie Stelle gefunden habe, hat schließlich dazu geführt, dass ich begonnen habe, Psychologie zu studieren. Das war ja eigentlich gar nicht so geplant.« Während des Studiums arbeitet Veran im psychologischen Labor einer Psychiatrie sowie auch, zwei Jahre lang, in der Privatpraxis einer Kinderpsychologin, wo sie die Arbeit mit legasthenischen Kindern kennenlernt. »Dort gefiel es mir sehr. Für meine Dissertation musste ich zu Forschungszwecken allerdings wieder zurück in den psychiatrischen Bereich. Unter anderem habe ich auch in Steinhof geforscht, und zwar mit Schlaganfallpatient:innen, deren Sprachzentrum so beeinträchtigt war, dass man sie auf den ersten Blick für minderbegabt gehalten hätte. Wenn man sich aber Zeit nahm, war offensichtlich, dass sie intelligent waren und sich nur nicht artikulieren konnten.« Diese Erfahrungen prägen die Studentin. Fortan wird sich Traude Veran für Menschen einsetzen, denen aufgrund einer Beeinträchtigung jene Chancen verwehrt bleiben, die für andere selbstverständlich sind. Doch ganz so geradlinig ist ihr Berufsweg nicht. »Nach meiner Promotion kam ich in einem Industriebetrieb unter. An und für sich hätte ich dort als Unterstützung des Prokuristen tätig sein sollen, es stellte sich aber bald heraus, dass ich die Allerletzte der Schreibkräfte war.« Veran schmunzelt. »Wahrscheinlich hatte man ein bisschen Angst vor meinem Doktortitel. Mein Mann und ich haben dann beschlossen, dass jetzt vielleicht die passende Zeit für mich sei, Mutter zu werden.« Traude Verans Berufslaufbahn – sie ist ein Flickenteppich, wie der vieler Frauen ihrer Generation. Kaum wo angekommen, musste sie auch schon wieder aufhören. »Ich hatte ja bald zwei Kinder und dann noch zwei Großmütter sowie eine Urgroßmutter zu umsorgen, auch mein Mann brauchte mich sehr«, erinnert sie sich. Veran (verh. Gertraud Schleichert) lebt mit ihrem Mann zehn Jahre in Deutschland. In dieser Zeit ist sie unter anderem auch Lehrbeauftragte an der Universität Konstanz. »Nach meiner Scheidung habe ich abermals nach einer Stelle gesucht, in Deutschland jedoch keine gefunden. Also habe ich geschaut, was es in Österreich für mich gibt.« Die Leitung der Pädagogischen Akademie in St. Pölten habe sie damals besonders interessiert. »Ich hätte die Stelle wohl auch bekommen, aber letztendlich scheiterte meine Bewerbung daran, dass ich kein Zeugnis darüber ablegen konnte, ein Instrument zu beherrschen. Und mein Klavierspiel lag damals ja auch schon 20 Jahre zurück.« Veran schenkt uns beiden vom Tee nach und erzählt mir von ihrer ersten Zeit im Burgenland. »Damals haben sie Schulpsychologinnen gesucht. Im Waldviertel, in Vorarlberg und im Burgenland waren Stellen ausgeschrieben. Vorarlberg hätte mich durchaus gereizt, aber das Schifahren konnte ich mir als alleinerziehende Mutter nicht mehr leisten, und ohne den Schisport macht Vorarlberg doch irgendwie keinen Sinn. Im Waldviertel wiederum war es mir zu kalt.« Sie lacht. »Ich hätte mich auch für das Nordburgenland entscheiden können, aber ich habe mich sofort ins Südburgenland verliebt.« Ein Neuanfang als Schulpsychologin also. In Oberwart, im Jahr 1976. »Die Kollegin an meiner Seite war damals noch Berufsanfängerin. Das war mein großes Glück. Erstens sah sie die Dinge schon ein bisschen anders, und zweitens brachte sie den Enthusiasmus einer Anfängerin mit. Wir waren ja nur zu zweit, ich bekam damals noch den Bezirk Jennersdorf dazu, meine Kollegin Güssing.« Die Idee, eine Integrationsklasse zu starten, habe dann bei einem Pfarrfest ihren Anfang genommen. »Auf besagtem Fest lernte ich die Sonderpädagogin Brigitte Leimstättner kennen. Ihr Freund war der burgenländische Schriftsteller Peter Wagner. Mit den beiden entstand schließlich eine Freundschaft fürs Leben. Jedenfalls haben wir uns auf diesem Pfarrfest über die Integration von behinderten Kindern in Regelschulen unterhalten, diese Klassen gab es in anderen Ländern ja schon. Und dann ergab sich schnell der Wunsch, sich das genauer anzuschauen und auch etwas in diese Richtung zu wagen.« Freilich, die Eltern der betroffenen Kinder habe man schnell für die Idee gewinnen können. Aber die anderen überzeugen? Das war in Oberwart Anfang der 1980er-Jahre eine Herausforderung. »Selbst ich galt damals nicht als ›normale‹ Mutter. Ich war geschieden; während meine Tochter bei mir lebte, ist mein 15-jähriger Sohn in Deutschland geblieben. Das haben damals viele nicht verstanden. Eine unserer Mitstreiterinnen wiederum war mit einem Nordafrikaner verheiratet. Andere Sprachen war man im Burgenland gewohnt, aber es ging doch immer auch darum, woher man kam.« Wie schafft man es gegen alle Vorbehalte der Menschen und der Politik, die erste Integrationsklasse zu eröffnen – und am Ende sogar dafür zu sorgen, dass ein Gesetz verabschiedet wird? Traude Veran lächelt verschmitzt. »Wir haben damals einen Schulversuch ausgearbeitet. Anfangs noch sehr laienhaft, haben uns selbst mit unseren Vornamen vorgestellt. Neun Mal mussten wir den Plan insgesamt umschreiben, wobei man wissen muss, dass wir das Papier am Ende immer wegen Formfehlern zurückbekamen. Irgendwie hatten wir da schon das Gefühl: Man will das einfach nicht haben. Zum Glück war der damalige burgenländische Landeshauptmann sehr offen für neue Ideen. Und unsere Idee empfand er als besonders merkwürdig. Also hat er sich das angeschaut. Nachdem er z.B. ein hörbehindertes Kind kennen gelernt hatte, das obendrein als verhaltensauffällig galt, war er überzeugt. Also hat er sich für unsere Idee stark gemacht.« Von der ersten Integrationsklasse bis zur Rechtschreibreform 1984 wurde in Oberwart die erste Integrationsklasse eröffnet. An dem Projekt beteiligten sich insgesamt zwei Psychologinnen, zwei Lehrerinnen sowie eine Physiotherapeutin. Und natürlich die Kinder und ihre Eltern. Bereits 1985 fand dann das erste Symposium statt, mit insgesamt 300 Besucher:innen. »Das haben eine Wirtin und eine Servierkraft für uns organisiert. Vor allem die Servierkraft muss ich hier erwähnen, sie hatte es nie leicht im Ort, war obendrein mit einem Afrikaner verheiratet. Da begegneten ihr allerlei Vorurteile, und ein behindertes Kind hatte sie dann auch noch. Die Organisation des Symposiums hat ihr Aufwind gegeben, sie hat sich richtig reingehängt, kommuniziert, Quartiere gebucht … Später dann führte sie mit ihrem Mann sehr erfolgreich eine Disco.« Bis zur Umsetzung des Integrationsgesetzes sollte es allerdings noch dauern. »Das Problem war ja vor allem, dass zu dieser Zeit die Unterrichtsminister ständig gewechselt haben. Kaum waren wir mit jemandem in guten Gesprächen, war er oder sie auch schon wieder weg«, erinnert sich Veran. 1993 war es dann endlich soweit. Die schulische Integration im Grund- und Sekundarschulbereich wurde gesetzlich verankert. Zwei Jahre später begann ich selbst als junge, noch auszubildende Pädagogin in einem Wiener Kindergarten zu arbeiten. Die erste Gruppe, in der ich mitarbeitete, war bereits »integrativ geführt«. 1995 fühlte sich das für mich an, als hätte es das immer schon gegeben. Dabei war es damals noch nicht einmal üblich, Kinder unterschiedlichen Alters in ein und derselben Gruppe unterzubringen. Viereinhalb Jahre später, Anfang 2000, wechselte ich in den Volksschulhort. Mittlerweile waren Integrationsgruppen der Standard. Was jetzt neu für mich dazukam: Um den Kindern bei ihren Hausübungen helfen zu können, brauchte ich wieder den Duden. Die große Rechtschreibreform, die 1996 eingeführt wurde – auch an ihr hat Traude Veran einsatzfreudig, aber leider ohne große Gestaltungsmöglichkeiten, mitgewirkt. »Meine Zeit im Burgenland endete, als meine Mutter an Demenz erkrankte. Irgendwann war klar, dass ich sie nicht mehr so lange allein lassen konnte, also musste ich zurück nach Wien«, erinnert sich Veran. Wieder eine neue Station – und wieder wird Veran ihre Fußabdrücke hinterlassen. Eine zufällige Begegnung mit Prof. Ernst Pacolt und ihre Frage, wie es denn mit der Rechtschreibreform vorangehe, bewirkte, dass man sie selbst mit ins Boot holte. »Ich hatte durch mein Studium der Sprachpsychologie und Linguistik ja eine Ahnung von der Materie, und durch meine Arbeit mit Kindern, die eine Rechtschreibschwäche hatten, konnte ich auch den praktischen Aspekt gut einschätzen.« Heute meint Veran schmunzelnd: »Hätte es die DDR damals noch länger gegeben, wäre die Reform wahrscheinlich schneller durchgesetzt worden. In der Schweiz und in der DDR war man der Reform gegenüber nämlich am meisten aufgeschlossen.« Die Literatur der Traude Veran Kann man die Schriftstellerin von der Psychologin und Sprachwissenschaftlerin trennen? Jedes Werk sollte natürlich auch immer für sich stehen dürfen – ohne dass Lesende sich mit der Biografie der Verfasserin auseinandersetzen müssen. Verans Gedichte sind selbsterklärend. Da gibt es die »Pendlerlieder« [2] , die in jener Zeit entstanden, als Traude Veran im Burgenland arbeitete. 2005 erschien »Gras gesät auf den Asphalt. Gedichte aus dem Berufsleben« [3] . »Das war dann schon zu einer Zeit, als mir ein bisschen die Luft ausging«, gesteht Veran. Dazwischen veröffentlicht sie unter anderem Gedichte über die Liebe (»Efeublüten« [4] ), Gedichte aus Namensanagrammen (»Letternfilter« [5] ) oder auch Collagen aus der Tageszeitung »Der Standard« (»stand ART « [6] ). 1997 erscheint »So gern ich Wien hab – an sich« [7] , ein Jahr später folgt »Vertrackte Kontakte. Limericks aus Wien« [8] . Beide Bände, die von Hermann Serient illustriert wurden, sind ein wunderbar sprachverspielter, aber auch sozialkritischer Streifzug in das Wien am Ende des vorigen Jahrtausends. Anfang der 1990er-Jahre gründet Veran gemeinsam mit Petra Sela die Edition Doppelpunkt, in dieser Zeit entstehen auch erste literarische Einzelpublikationen. Verans Sprache wird selbst im Dialekt niemals wirklich derb. »gee nebm mia und sei schdüü / i biddi sog nix / ollaweu de rederei / gee nebm mia üwad schdrossn /und schau ob ka auto kummd / und hoidmi zuck waun ans kummd« beginnt eines ihrer Gedichte in »So gern ich Wien hab – an sich«. Es sind Gedichte, deren Inhalt sich erst nach und nach entfaltet – man weiß nicht immer gleich, was die nächste Zeile bringen wird. Da geht es etwa um die Angst, fortgeschickt zu werden. Um die Einsamkeit, wenn man nach Hause kommt und über die Patschen fliegt, die einem am Morgen von den Füßen gerutscht sind. Aber auch um die Wiener Gassennamen geht es, und auch politische Gedichte finden sich in dem Band, der nicht nur neue, sondern auch die älteren Texte von Veran zusammenfasst. 1998 folgt der Band »Mein Gott Österreich. politische Lyrik und subversive Monologe« [9] . In dem Buch findet sich unter anderem eine – 1983 verfasste – Antwort auf Ernst Jandls »schtzngrmm«. Nicht lustig sei es für sie, nicht lautmalerisch, meint Veran in ihrer Replik »es erinnert mich an die sauberen knochen / die wir weggeschleppt haben / aus dem schubertpark / aus dem aushub von splittergräben«. 1999 dann die nächste Sammlung mit politischen Gedichten (»Gegenstimme« [10] ). Veran nimmt sich in ihrer Lyrik kein Blatt vor den Mund. Sie schreibt dagegen, »wenn zackige lieder / einigkeit demonstriern« [11] , auch macht sie sich Gedanken über Unterschiede im Sprachgebrauch, in dem 1988 zwar etwa schon von »UNSEREN jüdischen MITBÜRGERN« die Rede war, aber noch immer von »behinderten MENSCHEN«, während man »im Zusammenhang mit dem Adjektiv SLOWENISCH« die Ausdrücke »MITBÜRGER, MITMENSCH oder MENSCH« in Kärnten kaum hörte [12] . Die meisten von Verans politischen Gedichten sind noch immer noch von großer Relevanz – gerade heute, gerade jetzt, wo wieder von der »politischen Mitte« gesprochen wird, der Veran bereits Weihnachten 1984 ein Gedicht widmete [13] . Der Dialekt bzw. die Wiener Färbung sind Teil von Verans Schreiben. Man findet sie in ihren frühen Gedichten ebenso wie in Publikationen der jüngeren Zeit. (2021 etwa übersetzte sie unter dem Titel »Radln auf Wegaln« [14] Pitt Büerkens »Pättkesfahrt« [15] aus dem Plattdeutschen ins Wienerische.) Wie sie überhaupt dazu gekommen sei, im Dialekt zu schreiben? Traude Verans Augen blitzen mir begeistert entgegen. »Sagt dir The Worried Men Skiffle Group etwas? Als ich die damals das erste Mal hörte, hatte ich das Gefühl: Jetzt ist unsere Muttersprache auch eine echte Sprache. Für mich war diese Gruppe ein Stern am Himmel!« Am Ende meines Besuches holt Veran einen dicken Ordner aus dem Regal. Gemeinsam reisen wir in das Jahr der ersten Morgenschtean-Herausgabe (1989) und noch ein bisschen weiter zurück. »Ich weiß gar nicht, wie ich damals von der Gründung der Ö.D.A. erfahren habe. Ob aus dem Fernsehen oder vielleicht doch von Erich Schirhuber. Ich habe von 1986 an drei Jahre lang an den Arbeitstagen der Mundartdichter in Kirchbach/Kärnten teilgenommen, ich kannte die Szene also ein wenig. An die Veranstaltungen dort denke ich besonders gerne zurück. Die Lesungen fanden auch auf Bauernhöfen statt und waren gut besucht, und man begegnete vielen anderen Menschen, die sich für die Dialektliteratur engagierten. Ich habe ja dann auch schon recht früh begonnen, im Morgenschtean meine Dialektgedichte zu publizieren.« Sich nicht bremsen lassen Traude Veran hat es stets gereizt, Neues auszuprobieren. Ihre Lyrik hat sich immer wieder gewandelt und neu erfunden; auch mit dem Medium Hörbuch [16] hat sich die Autorin auseinandergesetzt. Mitten unter diesen vielfältigen Publikationen findet sich auch ein schmaler rosa Gedichtband. In »Cindy.Erinnerungen« [17] widmet Traude Veran ihre Gedichte ihrer verstorbenen Hündin. In Verans Schreiben darf alles nebeneinander existieren. Da hat das Private neben dem Politischen Platz. Das persönliche Tagebuch neben dem preisgekrönten Gedichtband. Das gebundene Sachbuch, das in einem namhaften Verlag erschienen ist, neben der selbst gedruckten Broschüre. So manches Mal blies ihr deswegen auch ein rauer Wind entgegen. »Manche sehen ja auf einen herab, wenn man Projekte selbst oder nur mit einem sehr kleinen Verlag verwirklicht. Aber auf diese Menschen darf man nicht hören, auch wenn es natürlich weh tut«, rät Veran. Sich nicht von den eignen Vorhaben abhalten lassen, das war immer schon Traude Verans Credo – egal, ob es um das Integrationsgesetz oder um ihre Literatur ging. Auch die Österreichische Haiku-Gesellschaft hat Veran mitbegründet; heute ist sie Ehrenmitglied. Bei unserer Verabschiedung überreicht sie mir ihre letzte Publikation. Der schmale Haiku-Band »Das Chinesische Jahr« [18] mit der Nachdichtung alter chinesischer Weisheiten erschien voriges Jahr. Auch »Haiku schreiben – ein Weg der nie endet« [19] mit Silbenspielen und Versuchen über das Haiku von 1981-2021 ist gerade einmal vor einem Jahr erschienen.Danach folgten zwei weitere Publikationen. »Meine letzten«, wie Traude Veran verrät. »Das heißt aber nicht, dass ich aufhöre zu schreiben!« [20,21] Während der Fahrt über den Semmering krame ich in meinem Koffer. Ich habe Glück – neben mir sitzt niemand, so dass ich Verans Werke alle auf einmal hervorziehen kann. Vor allem ihre politischen Gedichte und ihre Wien-Limericks haben es mir angetan, aber auch die selbst gebundene Publikation »Wassertropfen, Wasserleitung, Wasserfall« [22] ] gefällt mir sehr – und das Vorwort entlockt mir mitten auf der Strecke ein so lautes Lachen, dass man sich nach mir umdreht. Als ich am Grazer Hauptbahnhof wieder aussteige, um in den Bus nach Hause umzusteigen, denke ich: Vielleicht sollten wir alle ein bisschen mehr sein wie Traude Veran und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wenn es etwas (noch) nicht gibt, von dem wir meinen, dass es die Welt ein Stück besser macht, können wir uns immer auch ein wenig selbst darum kümmern. Wie sagte Doris Lessing angeblich einst: »Whatever you’re meant to do, do it now. The conditions are always impossible.« Margarita Puntigam-Kinstner, mit Dank an Traude Veran für das Gespräch ____________________ 1 Traude Veran: Das steinerne Archiv – Der Wiener jüdische Friedhof in der Rossau , Mandelbaum Verlag, Wien 2002, 20. Auflage 2006 2 Gertraud Schleichert: Pendlerlieder. Gedichte aus dem Burgenland. Mit Federzeichnungen von Hermann Serient. Edition Doppelpunkt, Wien 1993 3 Traude Veran: Gras gesät auf den Asphalt. Gedichte aus dem Berufsleben. Cornelia-Goethe-Verlag, Frankfurt am Main 2005 4 Gertraud Schleichert: Efeublüten. Gedichte über die Liebe 1953–1993. Mit Federzeichnungen von Ingrid Kerzina. Edition Doppelpunkt, Wien 1994 5 Gertraud Schleichert: Letternfilter. Gedichte aus Namensanagrammen von Gran Mama . Reihe „Ausser der Reihe“, Edition Doppelpunkt, Wien 1994 6 Gertraud Schleichert: standART. Collagen aus der Tageszeitung »Der Standard «. 30 Tagesseiten. Reihe »Ausser der Reihe«, Edition Doppelpunkt, Wien 1996 7 Traude Veran: So gern ich Wien hab – an sich. Wiener Klangfarben. Mit Federzeichnungen von Hermann Serient. Edition Doppelpunkt, Wien 1997 8 Traude Veran: Vertrackte Kontakte. Limericks . Mit Federzeichnungen von Hermann Serient. Uhudla Edition, Wien 1998 9 Traude Veran: Mein Gott Österreich. Politische Lyrik. Edition Doppelpunkt, Wien 1998 10 Traude Veran: Gegenstimme. Politische Lyrik und subversive Monologe. Edition Doppelpunkt, Wien 1999 11 ebd. S 54 12 ebd. S. 70/71 13 ebd. S. 55 14 Pitt Büerken, Traude Veran: Radln auf Wegaln. Pättkesfahrt im Wiener Dialekt. Österr. Haiku Gesellschaft, Wien 2022 15 Pitt Buerken: Pättkesfahrt. Kurzgedichte in japanischer Tradition auf Münsterländer Platt und Hochdeutsch. Agenda Verlag, Münster 2021 16 Traude Veran: Ich rede in den Zungen der Sprachlosen. Sprach-CD. edition lex liszt 12, Oberwart 2019 17 Traude Veran: Cindy. Erinnerungen an einen Hund. Fotos und Zeichnungen. Lesedition, Wien 1997 18 Traude Veran: Das Chinesische Jahr. Eine Nachdichtung. Mit Kalligrafen von YU FENG, Österreichische Haiku Gesellschaft, Wien 2023 19 Traude Veran: Haiku schreiben - ein Weg der nie endet , Rotkiefer, Berlin 2023 20 Regenlicht. Haiku und Ähnliches 2020-2023. ÖHG, Wien 2023 21 Claudia Brefeld und Traude Veran: Windböen und Schattenkühle. Haiga und Tan-Renga. Rotkiefer Verlag, Berlin 2024. 22 Traude Veran: Wassertropfen, Wasserleitung, Wasserfall – eine Publikation zum Jahr des Wassers 2003 , Selbstverlag Haus Rossau, Wien 2004
- "Er hat Kleinkariertem Größe verliehen" – zum 60. Geburtstag von Robert Eder
Er hat Backwerken ein zweites Leben eingehaucht, er hat dem Lurch eine Ode geschrieben und Grashalme an (Lein-)Wänden wachsen lassen, er hat dem Gummibaum Blumen geschenkt und mit ihm small-getalkt, er hat Kleinkariertem Größe verliehen. Und was für andere lediglich der Standard ist, ist ihm schon eine Bibliothek wert. Er liest gerne im Beichtstuhl und betet am Punschstand. Er hat mit mir Zeit(ung) gelesen, Land gesichtet, ist mit mir auf Bühnen geklettert und hat mich zum Traualtar begleitet, hat mit mir das Eheleben besungen und gehdichtet, und er hat mit mir etliche Kinder großgezogen, wenn auch nicht die Gemeinsamen. Wenn er das Handtuch geworfen hat, dann nur um Luft für den nächsten Aufguss aufzuwirbeln. Er hat immer seine Hände ausgestreckt und sich gelegentlich damit zu später Stunde ein gutes Süppchen eingebrockt. Er hat nie geboxt und dennoch vieles weggesteckt. Er hat an meiner Schulter geweint. Und in meinem Keller gelacht. Nachdem er ebendort meinen Wein geleert und dem Fred das Fürchten gelehrt hat. Er hat mich unter seinem Verandadach aufgenommen. Ich durfte mich von seinem Vater mit Erdäpfelgulasch abfüllen lassen. Und wir haben stundenlang geredet. Aber das einzige Rätsel, das wir bislang nicht gelöst haben: Wenn zwei Schnecken heiraten – in welches Haus ziehen sie dann, mein Freund? Dein Bertl. Text und Foto: © Robert Anders
- Anna Maria Lippitz
Anna Maria Lippitz wurde 1969 in Griffen geboren. Nun lebt sie im Lavanttal wo sie als Fachsozialbetreuerin/Pflegeassistentin auch arbeitet. Der Wohnort St. Andrä ermöglicht ihr ein reges Familienleben mit den zwei erwachsenen Töchtern und ihrem Enkel. Ihr erstes Gedicht entstand in früher Jugend. Schreiben ist für sie eine Art mit dem Leben umzugehen. Sie versucht zu Papier zu bringen, was sie innerlich bewegt. Das Lesen ihrer Texte eröffnet ihr selbst neue Betrachtungsmöglichkeiten. Ihr schriftstellerischer Schwerpunkt liegt in Lyrik und Mundart. Anna Maria Lippitz ist Gründungsmitglied der Kärntner Schreiberlinge. Sie ist ebenso Mitglied von „Buch 13“ und wurde 2022 in den Kärntner SchrifstellerInnenverband aufgenommen. Sie nahm neben zahlreichen anderen an Lesungen der Kärntner Schreiberlinge, am Poesiefestival in Seeboden 2019 und 2021 und dem Dialog mit Johannes Lindner in Moosburg 2021 teil. Veröffentlichungen: Sinnsprüche im Tischkalender der Kärntner Schreiberlinge 2019 bis 2023 Gedichte im Landkalender des Leopold Stocker Verlags 2018 bis 2020, 2022 Mundartgedichte im „Morgenschtean“ (U70-71/2021) Textbeiträge in der Anthologie „Freitags um vier“, Hrsg. Karin Ch. Taferner 2021 Gedichtband „Die ersten 50…“, Eigenverlag 2019 Textbeitrag „Kindheitserinnerungen“ auf der Hör-CD „hörzeigbar“, Hrsg.Kärntner Schreiberlinge 2017 zuletzt aktualisiert im April 2023 Anna Maria Lippitz im Interview (Nov. 2024) Literarische Beiträge von Anna Maria Lippitz finden Sie in den folgenden Morgenschtean-Ausgaben: U82–83/2024 U80-81/2024 U78-79/2023 U76-77/2023 U70–71/ 2021 U76-77/ 2023 sowie in unserer Hör-Mediathek "Österreich Hören" im Bundesland KÄRNTEN: https://www.oeda.at/kaernten-hoeren
- lüüs
lausige gestalt, grantig & bequem. Website: lüüs.xyz Literarische Beiträge von LÜÜS finden Sie in den folgenden Morgenschtean-Ausgaben: U80-81/2024
- Morgenschtean U82-83
erscheint im November 2024 „ Geld macht glücklich, wenn man rechtzeitig darauf schaut, dass man's hat, wenn man's braucht . So warb die Raiffeisenbank Ende der 1980er-Jahre. Wie sieht es fast vier Jahrzehnte später aus? Haben wir bzw. unsere Eltern rechtzeitig drauf g‘schaut, dass ma’s heute haben? Oder hat eh alles nix gebracht? Weil heute andere Regeln gelten? Die Schere zwischen Arm und Reich ist nochmals größer geworden, die Politiker*innen scheinen keine adäquaten Antworten zu haben, der Arbeitsmarkt hat sich verändert und unsere Standards auch. 18 literarische Beiträge zum Thema haben wir diesmal in die Printausgabe aufgenommen. Außerdem gibt es wieder ein dreiseitiges Interview , diesmal mit der Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Rezka Kanzian, die u.a. über ihr Aufwachsen als Kärntner Slowenin im Rosental erzählt. Die Bundesland-Sonderseiten rücken diesmal Dialektliteratur aus Kärnten in den Mittelpunkt.