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- DialektSHOG #2 vom 17.09.2023 zum Nachhören
Hat Dialekt mit Poesie zu tun oder nicht? Welche politische Verantwortung tragen Dialektautor:innen? Und welche Bedeutungen haben literarische Traditionen bzw. welchen Einfluss übt die Wiener Gruppe auch heute noch auf Schreibende aus? Diesen Fragen gingen wir in der zweiten Ausgabe unserer 7 shades of Grauko-Sondersendung „DialektSHOG“ nach. In der zweiten Folge geht es um Motivationen. Warum wird Literatur im Dialekt geschrieben? Hat Dialekt mit Poesie zu tun oder nicht? Welche politische Verantwortung tragen Dialektautor:innen? Welche Bedeutungen haben literarische Traditionen heute noch? In der Sendung wird es Auszüge aus dem Essay „wia pikn oiso zaum. Warum Dialektpoesie keine eigene Kategorie sein muss, sondern einfach poetisieren kann“ von Katharina J. Ferner zu hören geben, der 2020 im Wespennest erschien. Über seine kritische Antwort, die 2021 in der Zeitschrift perspektive abgedruckt wurde und den Titel „… und Dialekt hat nichts mit Poesie zu tun“ trägt, wird sich Margarita anschließend mit dem Autor und Literaturwissenschafter Mario Huber unterhalten. Nachgefragt wurde außerdem bei der Tiroler Autorin Siljarosa Schletterer , die uns aus der Ferne ein Statement zukommen ließ. Rund um die Beiträge erzählen Kuno Kosmos und Harald Letonja, wie sie zum Dialekt bzw. zur Dialektliteratur kamen und wie sie das mit dem Dialekt und der Poesie sehen. mit Tonaufnahmen der Autor*innen: Siljarosa Schletterer: (Gedicht: „zemmbach“) Katharina J. Ferner (2 Gedichte aus dem Band „krötentage“, Limbus Lyrik, 2022, S. 65, 70-71) Mario Huber: „Hock“/ „Ockahian“ // „Rumäna“ / „Neiche Chefin“ / „Obn aufm Berg // Ma woaß jo ned / Haus Kuno Kosmos: „Kreizung“ / „Hin oisa Gaunze“ Harald Letonja: „Die Barmherzigen Schwestern“ (Leonard Cohens sisters of mercy im Grazer Dialekt, Demo) sowie Beiträgen des verstorbenen Autors Bernhard C Bünker aus folgenden Sendungen: – Vorwort zur Fettfleck-Sonderausgabe aus dem Jahr 1979, gelesen von Alfred Woschitz in Ewigkeitsgasse TV #15 Link zur Sendereihe: https://ewigkeitsgasse.at/ YOUTUBE: – „Tusch II“ aus der Sendung „Lei gschpian … koj čut´t“ von Radiorosta am 08-07-2023 auf Radio Agora, Link zur Sendung: https://cba.fro.at/626130 – „Des Fest“ / „Hamat II“, gelesen von Bernhard C. Bünker, aus. Lei nit lafn onfongen“ Verlag van Aacken, 1988 Musik: Christina Zurbrügg: Dobratsch Yodelling Erika Stucky: „Zäuerli“
- DialektSHOG#3 vom 10.12.2023 zum Nachhören
Am Sonntag, 10. Dezember präsentierten GRAUKO und die Morgenschtean-Redaktion die neue Morgenschtean-Ausgabe auf Radio Helsinki! Aus der aktuellen Ausgabe "Jammer & Jubel" lasen: Anna Maria Lippitz, Gerlinde Allmayer, Maria Junger, Cornelia, Allmayer Krieg, Laura Nußbaumer, Silke Gruber und Johannes Lerch. außerdem gibt es weitere Texte zum Thema von: Angelika Polak-Pollhammer, Boarnvroni, Kuno Kosmos, Veronika Unger und Anna-Lena Obermoser. Dazwischen hören wir in die neuen Alben von Sigrid Horn und SarahBernhardt hinein - und auch in die vertonten Bunker-Lieder von Gottfried D. Gfrerer. Am Ende der Sendung reisen wir mit Ronnie Rohrecker, Liliana und Rave nach Wales, und das liegt in unserer Sendung mitten im Pinzgau! Mittlerweile ist die Sendung auch im Archiv – und kann hier nachgehört werden. nächste Folge: Di, 12.3. um 18:00 auf Radio Helsinki (Graz FM92,6 oder weltweit unter helsinki.at/livestream )
- DialektSHOG#5 vom 4.6.2024 zum Nachhören
In unserer 5. Ausgabe stellen wir abermals eine neue Ausgabe der Dialektzeitschrift Morgenschtean vor. Zu hören gibt es diesmal Texte zum Thema „koid, wäama, haaß – Auf der Suche nach der Klimalösung “ von Wolfgang Weinlechner, Rudolf Jelinek, Anna Maria Lippitz, Kuno Kosmos und Veronika Unger. Danach reisen wir ins Bundesland Niederösterreich und hören – zum Teil vertonte – Lyrik von Wolfgang Kühn, Eva Lugbauer, Christine Tippelreiter und Jasmin Gerstmayr. Außerdem hören wir uns das neue Album von Reino Glutberg an – und da wird’s dann so richtig schön bluesig. Mittlerweile ist die Sendung auch im Archiv – und kann hier nachgehört werden. Direktlink: https://cba.media/690864
- »Ruhe und Stillstand sind dir beides Fremdwörter« – zum 65. Geburtstag von Heinz Wolf
Lieber Heinz, es scheint, du gehörst zu jenen Glücklichen, die offenbar schon früh wussten, was sie (beruflich) wollen. Rufen manche Eltern ihren Kindern zu: Macht bloß kein Theater , so hat man dir das erst gar nicht sagen müssen. Du hast das gleich zu deinem Beruf gemacht, hast Theatermaler gelernt und bist Sto- ryboarder und Illustrator geworden. Du hast das Kabinett für Wort und Bild gegründet. Und du bist auch dem Dialekt im geschriebenen Wort verbunden, hast Moritz, Max und Peter (dem mit den Struwweln) das Wienerische auf den Leib gepinselt, hast »schwozze Lecha« umschifft und dich der »Affenschinderei« angenommen. Du hast schon im Jahr 2008 Fußballhelden »rotsehen lassen«, was in Anbetracht aktueller Ereignisse rund ums Nationalteam nahezu prophetisch war. Und du bringst seit Jahren die Leser*innen vom Morgenschtean mit deinen Cartoons zum Schmunzeln. Und nein, »Essen wie im Häfn« ist nicht dein Ding, lieber im wohligen Ambiente eines Wiener Cafés am Wienfluss gemütlich speisen, am liebsten am Tisch 14. Und auch wenn dein rundlicher Geburtstag eine Zahl anzeigt, die man mit Ruhestand assoziiert, so hat das bei dir wohl kaum seine Berechtigung. Ruhe und Stillstand sind dir beides Fremdwörter. Zu unsrem Glück. Denn das lässt uns auf viele weitere Grafiken von dir hoffen, die uns zum Lachen bringen, und gleichermaßen dazu führen, dass das Lachen im Halse stecken bleibt – weil sie so genial den Finger in die gesellschaftliche Wunde legen. Und wenn du im Augenblick auch aus Kartons lebst – so wünschen wir dir, dass du auch weiterhin für deine Cartoons lebst, und außerdem wünschen wir dir: Happy Birthday! Und ois Guade!! Robert Anders (Dieser Beitrag erschien auch in der Beilage zur Ausgabe U82-83 )
- "NUR NOCH ZWÖLF TAGE"
„Erschrecke doch, du allzu sichre Seele!“ (BWV 102) Gedanken über das T rauern, Schweigen und Verdrängen – Axel Karner über die Erzählung »Nur noch zwölf Tage« von Alfred Woschitz „Nicht darüber sprechen zu können“, war das Schlimmste. „Schweigen und Verdrängen ist die erste Reaktion, irgendwann muss man aber darüber, was passiert ist, reden, nur dann kann man das alles verarbeiten.“ (Edda Schwarz in: Bernhard Gitschtaler, Ausgelöschte Namen S.92) Was kann es Befreienderes geben als zu erfahren, wer man wirklich ist. Allerdings nicht allein definiert durch ein landschaftliches Woher und räumliches Beheimatet sein, sondern auch als das soziale Wesen, das man idealtypisch sein möchte und zu dem man schließlich geworden zu sein glaubt. Das Wissen über die Umstände, die einen zu dem Menschen gemacht haben, der man ist, geht einher mit der das Bewusstsein verändernden Frage, was auch an Verdrängtem und Unbewussten den Menschen leitet. Die Antwort liegt im guten Fall in einer beständigen Suche danach. In diese Haltung fügt sich die kleine, bewegende Erzählung über die vier Söhne der Bauernfamilie Woschitz und eines ihrer Nachkommen. Unter dem Eindruck erstickter Tränen und verstummter Schreie nimmt sich Alfred Woschitz - wie es scheint einer inneren Verpflichtung folgend, ganz im Sinne der von Alexander und Margarethe Mitscherlich beschriebenen These von der Unfähigkeit unserer Großeltern und Eltern zu trauern - des erlittenen Leids seiner Familie an, um einen Fuß in die Tür der dunklen Räume des Verdrängens und Vergessens zu stellen, und das Geschehene zu erhellen, sichtbar und begreifbar zu machen. Seine Suche nach dem Menschsein folgt zwei unterschiedlichen Spuren, die schließlich in einer schmerzhaften Erkenntnis zusammenfinden. Die eine erzählt die grausame Geschichte, angetan einer Bauernfamilie durch den Wahn und Zynismus der Nationalsozialisten („ Der Krieg fordere Opfer, von jedem von uns …“ S.44). In die scheinbar dörfliche Idylle einer holzschnittartig gezeichneten, widerständigen Familie (der Vater gilt als nicht „gesinnungstreu“, der Hitlergruß ist verpönt, die Kinder werden zum traditionellen Grüßen angehalten) bricht mit der Zwangsrekrutierung der vier Söhne die destruktive Gewalt des Naziregimes herein und zerstört eine bisher gelebte Heimat als „vertraute Landschaft, in der Geborgenheit und trotz vieler Mühsal ums tägliche Brot, [die ihr als] höchstes Gut der Welt und des Daseins“ galt. Die andere Spur führt - ob durch Zufall oder durch „himmlisch-göttliche Regie“ - den Enkel, der den Namen seines durch das Naziregime gefallenen Onkels trägt, und nach einem schweren Erdbeben in Armenien im Auftrag des DRK, später des IRK ein humanitäres Hilfsprojekt leitet, auf einem Inlandsflug nach Moskau, durch einem erzwungenen Aufenthalt in Südrussland zum Soldatenfriedhof von Volgorod. Unter dem monumentalen Eindruck der „Rodina-mat sowjet“ wird ihm im Nachhall des Schmerzensschreis seiner Großmutter über des in Südrussland verschollenen Sohnes die Tragweite des verbrecherischen Krieges bewusst und lässt ihn erkennen wie sehr die Verstrickungen unserer Vorfahren uns bis heute unbewusst beeinflussen und leiten. Wie der Schmerz über die bleibenden Wunden und Traumata auf Seiten aller Opfer lähmt. Im Leid über viele Generationen hinweg. Wenn heute, fast 80 Jahre nach dem Krieg mit dem Verlust der meisten Zeitzeugen, historische Authentizität droht verloren zu gehen, stattdessen Relativierungen der Revisionisten die historischen Fakten über all das Geschehene verdrehen, Opfer-/ Täterumkehr wieder zum Handwerk der Rechtfertigung erfolgten Unrechts gehört, ist dies ein weiterer Versuch der Schuldabwehr, das Vergessen und Verdrängen zur Bewältigungsstrategie zu erheben. Mit verheerenden Folgen für die Seelenlandschaft. Sei es nun der Drang des Lebendigen oder das Vertrauen, dass das Leben letztlich doch die Oberhand behält, Menschen wollen und müssen das Leid, die körperliche und seelische Zerrüttung weiterer Generationen, die der NS-Staat mit seiner mörderischen Ideologie über Millionen gebracht hat, immer wieder neu ins Gespräch bringen. Das Reden über die Opfer, die den unmenschlichen Vorstellungen der kranken Hirne der NS-Schergen und deren feigen Mitläufern nicht entsprachen und vernichtet wurden, ist notwendig. Auch als Bekenntnis zur Verantwortung im Erkennen der Last der eigenen Stigmatisierung. Um damit aber auch dem Gerede, es müsse doch endlich ein Schlussstrich gesetzt werden, ein striktes und vehementes Nein entgegenzusetzen. Es ist gewiss, auf dem Misthaufen der noch immer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit gärt neuer unsäglicher rechtsradikaler Mist. Alfred Woschitz, Nur noch zwölf Tage. Erzählung. Verlagshaus Hernals, Wien 2024. 97 S. ISBN 978-3-903442-58-0
- "zwillen und plärren, heschatzen und rehrn«
Elisabeth Hafner im Interview Du bist Vielleserin. Was macht das Lesen mit dir – was kann Literatur erreichen? Ich lese, seit ich des Lesens kundig bin. In der Literatur eröffnet sich mir eine Quelle, die vielstimmig und vielschichtig die Rahmenbedingungen menschlicher Existenz formuliert. Literatur fördert die Kraft, Visionen zu generieren. Ebenso ermöglicht sie es marginalisierten Menschen, denen, die an den Rand gedrängt wurden, ihre Stimme zu erheben. Unverzichtbar ist die Wahrnehmung der Zeitzeugen, sie bildet die Gegenstimme zur dominant-patriarchalen Geschichtsschreibung. Messerscharf sezieren Autor:innen gesellschaftliche Lebensbedingungen. Sie analysieren die im Untergrund verborgen liegenden Herrschaftsstrukturen, identifizieren deren Wirkweise und transponieren sie auf die Ebenen gültiger Verständlichkeit und menschlicher Erlebnisformen. Literatur fördert die Empathie, man fiebert mit einer Protagonistin, einer Gruppe von Menschen mit; ein Fenster in eine unbekannte Welt öffnet sich. Literatur birgt Spannung und Entspannung, spricht vom Möglichen und Unmöglichen, vermag es, mich zu einer Nordpolexpedition mitzunehmen1, Helene Kottannerin beim Diebstahl der Krone über die Schulter zu schauen2 oder die Zeitschleifen in Adas Raum zu erleben3. Steve de Shazer schreibt vom ursprünglichen Zauber der Worte, von der Kraft, die den Worten innewohnt4. Wann hast du selbst zu schreiben begonnen? Seit ich mich erinnere, hat mir das Schreiben immer Freude gemacht: die Lust am Formulieren, am Ausdruck, der Klang der Worte. Erste Gedichte, die in der Schublade verschwanden und vier Jahrzehnte später wieder herausgeholt wurden. Nicht wenige deiner Gedichte sind im Dialekt verfasst. Was bedeutet Dialektsprache für dich als Autorin? Wischbam und Klachl , Dampfl und Wazan – das sind Begriffe aus dem Sprachgebrauch der Kindheit, deren Klang mich augenblicklich in die Muata - und Votasproch versetzt. Es ist ein eigener Kosmos mit seltsam anmutendem Fachvokabular, der auch die Arbeits- und Lebenswelt meines Vaters beschreibt. In Gesprächen mit dem 97-Jährigen schreibe ich die »Fachworte« inzwischen mit. Im Kärntner Dialekt gibt es zwanzig unterschiedliche Bezeichnungen allein für das Weinen. Da kann man zwillen und plärren , heschatzen und rehrn und de Zachalan rinnen losn . Schon durch diese Skalierung wird die Art und Weise des Kummers näher bestimmt. Ein Reichtum im Wortschatz, der uns hilft, die Bewegungen der Seele sorgfältiger zu verbalisieren und sie einzuordnen. Das kann uns näher an unsere Emotionen bringen, zwischenmenschliche Distanzen verkürzen, einen unmittelbareren Weg zu herzlicherem Verständnis bilden. Mundart ist eine Sprach-Ressource, sag ich mal, das Schimpfen geht auch direkter, deftiger. In der Herzenssprache, der Mundart, fließen Klagen leichter, lodert der Zorn wuchtiger. Eine verborgene Kraft, die sich erst nach und nach zeigt, scheint in ihr zu schlummern; als würde deren alte Melodie uns Frierende ein wenig »wärmen«. Dennoch erinnere ich die Jahre, als gesagt wurde, wir sollten den Dialekt besser meiden, wollten wir in der Schule besser vorankommen. Zu meiner Überraschung eröffnete sich mir in Bünkers sozialkritischen Mundarttexten ein neues Feld. Den Wiener Dialekt, auch das Wiener Lied, mag ich übrigens auch, weil ein Teil meiner Familie aus Wien kommt und drei meiner Kinder inzwischen dort leben. In deinen Texten geht es sehr oft um feministische Themen, aber auch um Macht und Ohnmacht ganz allgemein. Wie findest du zu deinen Themen? Über viele Jahrhunderte lag die Deutungshoheit fürs Frauenleben in den Händen der Männer. Tief verwurzelt und nur leicht verdeckt wuchern die unterschiedlichsten Formen destruktiver Frauenbilder. Je länger man als Frau, die Kinder geboren hat, in dieser Gesellschaft lebt, desto mehr häufen sich die Erfahrungen erlebter Benachteiligung, die in unserer ungleichen Gesellschaftsordnung begründet liegt. Kindererziehungszeiten werden in der Pensionsberechnung nur mangelhaft abgebildet, Mütter arbeiten sozusagen für Gottes Lohn, aber das hilft ihnen in der Pension nicht, ihre Rechnungen zu bezahlen. Der Staat bestraft die Mütter fürs Kinderkriegen. Meine Schwiegertöchter sind auf die Öffnungszeiten der Kitas angewiesen, steigen sie in den Arbeitsprozess ein, wählen sie die Halbtagesbeschäftigung, um die Dreifachbelastung der Care-Arbeit zu stemmen. Damit geht aber schon eine zukünftige Verminderung der Pensionshöhe einher, obwohl ihre Partner das Halbe-Halbe Modell in der Care-Arbeit leben. Die Rente der Bäuerinnen beträgt ganze vierzig Prozent von der des Ehemannes. Alte, unreflektierte Rollenbilder, die das Machtgefälle perpetuieren, verhindern die Wahrnehmung geschlechtergerechter Bedürfnisse. Solange Ärzte meinen, der männliche Körper sei das Maß aller Dinge, werden die körperlichen und seelischen Nöte der Frauen negiert. Bis zum Beispiel der Herzinfarkt einer weiblichen Person erkannt wird, dauert es um einiges länger; Zeit, die der Frau dann möglicherweise zum Überleben fehlt. Autorinnen erleben massive Benachteiligungen, wie man gerade im aktuellen Gender Report des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport nachlesen kann, mit dem Schwerpunkt auf Fairness und Fair Pay. Auch Kärntens bittere Geschichte des institutionellen Kindesmissbrauches in den Jahren von 1950 bis 2000 trägt die Fratze dominant männlicher Rollenbilder, die Frauen und Kinder per se entwerten. Nachzulesen in der wissenschaftlichen Dokumentation: »Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl. Gewalt an Kindern und Jugendlichen in heilpädagogischen Institutionen der Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens in Kärnten zwischen 1950 und 2000«. Nicht alle in der Justiz tätigen Personen verinnerlichten das neue partnerschaftliche Rollenmodell der Familienrechtsreform von 1975. Dieser Vorgang nahm Jahrzehnte in Anspruch, vor allem im Familienrecht und dem damit verbundenen Gutachterwesen bedient sich Justita gerne noch an althergebrachten patriarchalen Sichtweisen. Hast du literarische Vorbilder – und wie hast du in deiner Jugend zu ihnen gefunden? In Großmutters Bücherschrank fand ich unter anderem Werke von Sigrid Undset, Anna Achmatova, Nelly Sachs und Dolores Vieser. Erste Leseprägungen. Mein spärliches Taschengeld investierte ich in Christine Lavants Lyrikbände. Die Lyrik von Elfriede Gerstl, Christine Busta und Cvetka Lipus gibt mir heute eine Pause im Alltag, das ist wie ein Atemholen. Johannes Lindner, von dem man sagt, er hätte die moderne Lyrik in Kärnten begründet, soll nicht unerwähnt bleiben, seine existentialistischen Naturschilderungen inspirieren. Meine Tochter machte mich auf Clarisse Lispector, Anne Carson und Claudia Rankine aufmerksam. Toni Morrisons Werke müssten zum Standardwerk im Deutschunterricht erhoben werden, ich nenne »Rezitativ« und »Sehr blaue Augen«. Wobei wir bei einem Grundproblem in der literarischen Grundbildung angelangt sind: Im Rahmen des EU Projektes EPESEP erstellen namhafte Literaturwissenschaftlerinnen derzeit eine auf alle Schulstufen abgestimmte Leseliste, die endlich, endlich weibliche Autorinnen nennt und im bisher männlich konnotierten Literaturkanon Geschlechtergerechtigkeit herstellen könnte. Darüber informiert die Homepage der ≠igfem [Anm: Interessensgemeinschaft feministische Autorinnen, www.igfem.at]. Literatur von Männern wird ja bis heute ausreichend beworben und finanziert. Mich faszinieren die biografischen Bögen: Wie dröseln Schreibende die Spannung von Gelingen und Scheitern auf, wie verarbeiten sie Umbruchsituationen und wie gehen sie mit den Volten des Lebens um? Vor allem aber: Unter welchen Bedingungen (müssen) Autorinnen schreiben? Schreiben sie am Küchentisch wie Marlen Haushofer, im Krieg wie Svetlana Alexijewitsch oder in der Sklaverei wie Phillis Wheatley? Immer wieder neue Autor:innen für mich zu entdecken, kennzeichnet meine eher europäisch geformte Lesebiografie, doch lesend beame ich mich für einen Sommer nach China, Südafrika, Äthiopien, Kanada und Südamerika. Manchmal gehe ich einfach die Wege zum See, im Gepäck ein Taschenbuch von Ingeborg Bachmann. Du arbeitest gerade an deinem ersten Lyrikband. Welche Gedichte werden darin versammelt sein? Ich möchte meine Leser:innen auf eine literarische Reise mitnehmen. Die lyrischen Texte sind jeweils einem Ort gewidmet, die Reise spannt sich auch zeitlich über Jahrzehnte. Unterwegs zu sein, lyrisch verarbeitet, vom Ort der Kindheit aus, vom Teich, der einen beinahe verschluckt hätte, passiert die Leseroute das slowenische Jeruzalem, dröhnen die Glocken von Berlins Zionskirche zum Jahrtausendwechsel, graben sich die Zehen in den Strand von Tel Aviv. Der dritte Teil widmet sich der Stadt am Wörther See. Und da gibt es viel zu notieren! Maria Nicolini schreibt dazu im Vorwort: »Diese Gedichte vertreten Positionen aus öffentlichen Kämpfen – als gebe es hinter den Worten noch ein Ziel. Gleichberechtigung der Frau ist ein solches, auch die Behütung der Natur, das Erinnern, die Kinderrechte, die Hochrechnung im eigenen Leben: Als Maries Leben erlosch, überblühte Rosenrot den Hang, wichtig allerdings wäre ihr eines gewesen: die Gleichberechtigung.« _____________ 1. Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Christoph Ransmayr. 2. Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl. Julia Burkhard, Christine Lutter. Dies ist das älteste Selbstzeugnis einer Frau in deutscher Sprache. 3. Adas Raum. Sharon Dodua Otoo. 4. Worte waren ursprünglich Zauber. Von der Problemsprache zur Lösungssprache. Steve de Shazer. Nov. 2024 / mpk Lyrik von Elisabeth Hefner gibt es auch in: Morgenschtean U82-83/ November 2024 (Informationen zur Ausgabe & Bestellung)
- »Meine erste Fremdsprache ist schriftsprachliches Deutsch«
Axel Karner im Interview Du bist in Zlan, am Beginn des Stockenboier Grabens aufgewachsen. Welche Sprachen haben dich geprägt? Bist du schon im Dialekt erzogen worden? Prinzipiell hat jede Form von Sprache ihre Berechtigung. Sprache ist für alle komplexeren Tätigkeiten und Denkvorgänge des Menschen unverzichtbar. Der Mensch lebt und arbeitet in der Sprache. Es gibt keine muttersprachliche Herleitung für mein Sprechen. Die Verkehrssprache zu Hause war gepflegte Umgangssprache. Mein Vater, der als in der Monarchie geborener Burgenländer mehrsprachig aufgewachsen ist, lernte Deutsch in der Form des heanzischen Dialekts und Ungarisch. Meine Mutter, in Leipzig geboren, sprach ursprünglich sächsisches Deutsch und musste, um in Kärnten verstanden zu werden, »nach der Schreibe« reden. Im Gegensatz zu meinen Eltern redete ich, auch während meiner Schulzeit in Villach (bei der Matura wurde ich ermahnt, nicht im »derben« Dialekt zu sprechen), selbst noch während meines Studiums und in den Anfängen als Lehrer in Wien in breitem Dialekt. Das brachte mir in Wien als provinzieller Exot zwar eine gewisse soziale Zuwendung ein, führte im Unterricht jedoch zu Unverständnis und vielen Fragen. Oft auch zu Gelächter unter den Schülern. Meine erste Fremdsprache ist schriftsprachliches Deutsch und mindestens genauso mangelhaft wie alle anderen Sprachlernversuche im Laufe meines Lebens. Deine Gedichte sind sehr verdichtet und lautmalerisch, dennoch auf schonungslose Weise ehrlich. Sie erzählen von Sprachlosigkeit, Gewalt in ihren diversen Ausprägungen, vom Totschweigen und Verdrängen und davon, was plötzlich wieder hochgeschwemmt wird. Gab es ein auslösendes Erlebnis, das dich bewogen hat, dich diesen Themen zu widmen? Ein auslösendes, singuläres Erlebnis gibt es nicht, eher lässt sich ein schmerzhafter Erkenntnisprozess in der Wirkungsweise einer griechischen Tragödie beschreiben. Es ist das ein Gefühl einer unsagbar tiefziehenden Kälte und Einsamkeit, die ich oft als Kind und später als Jugendlicher im Dorf erlebt habe. Es ist vor allem der Aspekt einer emotionalen Ambivalenz, der mich seit meiner Jugend belastet. Da schmeichelt einerseits die idyllische Verklärung und Verkürzung intensiver Kindheitseindrücke, anderseits erschreckt und verstört die dystopische Leere und Dunkelheit einer grauenvollen Menschenferne. Wie Viele meiner Generation stelle ich mir die Frage, warum ich nicht mehr Wissen aus unseren Eltern (Kriegsgeneration: Vater 1907, Mutter 1924 geboren) herausgeholt habe. Warum es nicht möglich war, das so beredte Schweigen formalisierter Anekdoten zu durchbrechen. Den Grund politischer Dummheit, Ängstlichkeit und Angepasstheit zu hinterfragen. Wie konnte es gelingen, ohne große sichtbare Gewalteinwirkung, Kinder so bleibend feig, dumpf und stumm, geradezu sprachlos zu halten, sie unter den »geheiligten« Schirm religiöser Rituale und frommer Sprache und der damit verbundenen sozialen Kontrolle zu stellen. Die abgebildeten Gedichte von Axel Karner erschienen 1989 in der ersten Ausgabe des Morgenschtean.Neuere Gedichte von Axel Karner finden Sie auch in der aktuellen Ausgabe (U82–83/2024). Schlug man 1989 die erste Ausgabe des »Morgenschtean« auf, war es bestimmt kein Zufall, dass man auf den ersten Seiten ausgerechnet deine Gedichte zu lesen bekam. Der »Morgenschtean« wollte immerhin den Beweis antreten, dass Dialektliteratur kritisch auf die Heimat blicken kann (ja, muss!), und das mit einer unmittelbaren Wucht, die der Hochsprache oft fehlt. Wann hast du begonnen im Dialekt zu schreiben? Und welche Bedeutung hatte dabei auch die Begegnung mit Bernhard C. Bünker für dich? Eine prominente Platzierung. Vielleicht liegt es daran, dass Bernhard C. Bünker, mit dem ich befreundet war, der mich zum Schreiben in Dialekt anregte und den ich mitunter als meinen literarischen Mentor betrachte, meine Gedichte als publikationswürdig fand. Er hat auch 1992 den Klappentext zu »a meada is aa lei a mensch«, meinen ersten Gedichtband, verfasst. Bünkers Einfluss bestand allgemein derart – wie Gerhard Ruiss es einmal formulierte –, dass er »für vieles und viele ein Sprungbrett geschaffen hat, das er für sich selbst nie nützen wollte.« Mit dem »Morgenschtean« schuf Bernhard C. Bünker gemeinsam mit Manfred Chobot und Hans Haid schließlich eine regelmäßige Publikationsmöglichkeit für kritische Dialektliteratur. Mein Schreiben im Dialekt hat vordergründig wohl auch damit zu tun, dass ich als Student im akademischen Betrieb angehalten war und daher lernen musste, in Schriftsprache zu sprechen. Mag sein, dass ich auf diese Weise einen empfundenen sprachlichen und auch einen damit verbundenen Identitätsverlust auszugleichen suchte. Der Dialekt als Kommunikationsmittel steht immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Mein Dialekt hat zwar Kärntner Sprachwurzeln, unterliegt aber einer individuellen Verslangung, und damit einer lebendigen Veränderung. Widersetzt sich jeglicher Einhegung und »Pflege«. Der anarchische und ursprüngliche Aspekt des Dialekts hat die Kraft, jeden Sprachrahmen zu sprengen, zumindest aber in Frage zu stellen. Ein Unterbinden sprachlich-individueller Unmittelbarkeit und Authentizität hätte nur eine sprachpolizeiliche Mumifizierung zur Folge. Obwohl du schon sehr lange in Wien lebst, schreibst du nach wie vor im Kärntner Dialekt. Wie hat sich dein Verhältnis zu Kärnten und auch zum Kärntner Dialekt nach so vielen Jahren in Wien gewandelt? Mein Verhältnis zu Kärnten lässt sich als eher schmerzlich umschreiben, gerade auch wenn man sich die aktuelle politische Willensbekundung (Nationalratswahl 2024) vieler Kärntner Wähler und Wählerinnen vor Augen führt, die wieder einmal den nationalistischen Geist beschwören. Ganz im Sinne Bernhard C. Bünkers, der in seinen Satiren den Dichter Leposchitznig sagen lässt: »Wal ans is en jungen Hamatdichta mea und mea aufgongen, namle, doßa de Hamat nit los wean konn, dewos sich einwendig drinnen in eam onkrallt wia a Kotz«, besteht eine kritische Distanz, die sich aber nicht nur einfach mit Sympathie und/oder Antipathie beschreiben lässt. Das würde den Blickwinkel einengen und die Urteilsfähigkeit verkürzen. Das Verhältnis ist differenzierter und Ergebnis eines Entwicklungsprozesses immer in kritischer Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen und sozialen Situation im Land. Mit dieser räumlichen, aber auch mentalen Distanz zu Kärnten habe ich gelernt, tradierte Erzählungen über die Verhältnisse in Kärnten kritisch zu sehen, zu hinterfragen und neu zu bewerten. Fragt man nach dem Unterschied zwischen »Mundart« und »Dialekt«, vermuten viele, dass es einen sprachlichen Unterschied geben muss. Der Duden meint hingegen ganz klar: Die beiden Begriffe sind Synonyme. Und doch hat sich die Ö. D. A. bei ihrer Gründung ganz bewusst vom Begriff »Mundart« distanziert, sowie auch du großen Wert darauf legst, das Wort »Dialekt« zu verwenden. Kannst du unseren Leser:innen erklären, warum? Die neue Begrifflichkeit diente der Abgrenzung. Unter Hervorhebung des dialogisch-diskursiven Aspekts von Sprache sollten vor allem politische und soziale Inhalte berücksichtigt werden. Im Zuge der 68er-Bewegung wird die Sprache als Herrschaftsinstrument kritisch in Frage gestellt und debattiert. Die Suche nach der eigenen Identität führt auch zur Suche nach einer persönlichen Sprache. Der Dialekt wird zur Sprache gegen das Establishment. Sprachlosigkeit und Sprachfindung, soziale Wahrnehmung und die politische Umsetzung bezeichnen dabei Variablen auf einem literarischen Feld, auf dem Lebenswelt und Sprache einander bedingen. Zu Beginn der 70er-Jahre und in den 80er-Jahren kommt es zu einer Vernetzung und Internationalisierung der neuen kritischen Dialektdichtung. Mit der Gründung des IDI (Internationales Dialektinstitut) werden sprachliche Phänomene wie die Dialekte, Sprachen der Minderheiten und regionale Sprachen in einem gemeinsamen Projekt zusammengefasst, ohne sie untereinander und/oder gegen die Schriftsprache auszuspielen. Die Bewertung der Dialekttexte erfolgt nach ihren inhaltlichen Schwerpunkten und nach deren Authentizität. Neben der politischen und sozialen Intention steht vor allem die Frage nach der »Verkitschung der Dialektdichtung im Sinne unrealistischer Wirklichkeitsschau, Postkartenmalerei und Heimattümelei« (Sebastian Baur). Ein besonderes Anliegen dabei ist, jene traditionalistische Mundartdichtung, die sich als Wald- und Wiesenpoesie und vor allem als nationalistische Blut- und Bodendichtung unangenehm hervortut, auf den ihr zustehenden Platz zu verweisen. In strikter Abwehr jeglicher Vereinnahmung von Rechts, gerade in Kenntnis des propagandistischen Missbrauchs der Mundart während der NS-Diktatur. Themen und inhaltliche Schwerpunkte des kritischen Diskurses sind vor allem auch ökologische Fragen. Ursprünglich als Auseinandersetzung mit der Landschafts- und Menschenzerstörung durch den Massentourismus, über Proteste gegen die Errichtung von Atomkraftwerken bis hin zu den aktuellen Fragen der Klimaveränderung. Besonders augenscheinlich ist die sozial-emanzipatorische Linie, die die kritische Dialektliteratur durchzieht. Sensibilität und Empathie für die sozialen Probleme kleiner Leute, Kritik an Armut, Fremden- und Frauenfeindlichkeit, menschenfeindlicher Asylpolitik, zeichnet diese Autoren und Autorinnen aus. Vielen Dank! Nov. 2024/ mpk _______ Für sein Werk wurde Axel Karner 2022 mit dem Humbert Fink Preis ausgezeichnet. Die Jury hob Karners »Meisterschaft in der sprachlichen Reduktion« hervor sowie sein Beharren darauf, »dass Literatur mehr zu sein habe als bloße Unterhaltung«. Eine Rezension zu Axel Karners letztem Lyrikband mit dem Titel "popanz" (Wieser, 2024) finden Sie >HIER. Lyrik von Axel Karner gibt es auch in: Morgenschtean U82-83/ November 2024 (Informationen zur Ausgabe & Bestellung)
- »Leben ist zwegnkeeim und fuatgeahn«
Anna Maria Lippitz im Interview Du wurdest in Griffen geboren, heute lebst du im Lavanttal. Hat sich dein Sprechen durch den Ortswechsel verändert? Und wie verhält es sich in deinen Dialektgedichten? Welcher Dialekt schlägt sich hier nieder? Im Grunde hat sich, obwohl ich im Jauntal geboren wurde, schon seit meiner bewussten Hörfähigkeit die Klangmelodie unterschiedlicher Sprachfärbungen in mein Dasein geprägt. Meine Mutter ist im sogenannten Windischen Sprachbad aufgewachsen und unterhielt sich mit meinem Vater und uns Kindern im Unterkärntner Dialekt, wie es in diesem Haus üblich war, jedoch mit ihren Geschwistern Windisch sprechend. Die Muttersprache väterlicherseits war stark vom Lavanttaler Dialekt geprägt, da die Oma meines Vaters aus St. Paul im Lavanttal stammte. So trage ich viele alte Lavanttaler Dialektworte weiter, welche mein Vater neben dem vorwiegend gesprochenen Jauntaler Dialekt verwendete, und die mir schon seit Beginn meiner Wahrnehmung von Sprache »söltsom« im Sinne von kostbar erschienen sind. Insofern habe ich durch den Ortswechsel eine Erweiterung des Lavanttaler Sprachschatzes erfahren. Im Bezug auf meinen Unterkärnter Dialekt – den Windischen beherrsche ich ja leider nicht – war ich jedoch in der rein Lavantaler Dialekt sprechenden Familie, in die ich eingeheiratet hatte, gefordert, mir bestimmte Begriffe wie zum Beispiel Karjola (1) zu verkneifen, um kein Gespött auf mich zu ziehen. An meinen jüngeren Gedichten beobachte ich, dass sich mehr und mehr der Lavanttaler Dialekt in den Vordergrund drängt, zugleich jedoch bestimmte Jauntaler Ausdrücke unverzichtbar bleiben, um mein Fühlen präziser wiedergeben zu können. So gesehen würde ich meinen, im Kärntner Dialekt zu schreiben, der von der Koralpe bis zum Glockner ein vielfältiger ist, sich oft schon aus einem Tal bergwärts anders färbt und dennoch unverkennbar kärntnerisch klingt. In deinen Dialektgedichten hat man manchmal das Gefühl, in längst vergangene Zeiten zurückzureisen, dann wieder geht es um brandaktuelle Themen. Wie findest du zu deinen Themen? Was inspiriert dich? Zunächst bin ich euch sehr dankbar für die Themen, die mir jetzt durch den Morgenschtean zukommen und mich zum Schreiben bewegen. Meinen Eltern verdanke ich, bestimmte Arbeitsweisen und Umstände erlebt zu haben, die eigentlich meiner Großelterngeneration zuzuschreiben wären. Am Bergbauernhof aufgewachsen und bis zum vierzigsten Lebensjahr Bäurin gewesen zu sein, selbst noch »Goarbn gebundn«, »in Kumpf einghängt, Bleicha gschepst« und »Bochmulta griebn« zu haben, ermöglicht, Erlebtes zu formulieren. Vergangenes und aktuelles Erleben beeindruckt und beschäftigt mich. Themen, die mich gefühlsmäßig erreichen, bewegen mich. Es bewegt sich in mir, verdichtet sich und drängt irgendwann nach außen. Wir sind mittendrin, ständig gefordert. Die Witterungsfolgen, die Veränderungen in Gesellschaft, Arbeitswelt und sozialem Gefüge, Beziehung, Familie, weltumspannende Verbindung und Verbindlichkeiten, Überzeugungen und Religionen, die neuen Technologien. Ich bin noch ohne Telefon in der Großfamilie aufgewachsen, nun beobachte ich den Alltag meiner erwachsenen Töchter und bin tief bewegt über die persönliche Erfahrung dreifache Großmutter zu sein. Den Tod sehr nahestehender Menschen musste ich ebenso wie alle Betroffenen irgendwann akzeptieren lernen. Leben ist »zwegnkeeim« und »fuatgeahn«. Beides verursacht Schmerzen, wenn es nah kommt, und ist gleichzeitig berührend schön. Und dazwischen sind weitere, unzählige Momente des Spürens und Fühlens, die über die Sinne wirksam werden, mir zu denken geben und Auswirkung auf mein Schreiben haben. Was deine Dialektgedichte vereint, ist der unheimlich schöne Rhythmus deiner Lyrik, ihre Sinnlichkeit und das Lautmalerische in deiner Sprache. Damit schaffst du es, auch jene in den Bann zu ziehen, die nicht jedes Wort verstehen. Wie lange feilst du an deinen Gedichten? Danke für die Mitteilung dieser Wahrnehmung. Das animiert zum Weiterschreiben. Ein Großteil meiner Gedichte entspringt einfach so meinem Inneren, sozusagen naturwüchsig. Vieles fließt in einem Guss aufs Papier und wird nicht mehr bearbeitet. Manches verbraucht über zehn Seiten Papier während des Entstehens, wird am Stück geschrieben, überschrieben, es wird reingeschrieben, bis es sich fertig anfühlt. Einige Dichtungen bekommen mehrmaligen Korrekturbesuch im Laufe von Tagen oder Wochen, um vollständig zu werden. Es kommt auch vor, dass ein mir vorerst fertig erschienen gewesener Text zu einem späteren Zeitpunkt noch verändert wird. Oft ist es ein bestimmtes Wort, das noch gesucht wird, um näher ans Gefühl oder ans Bild zu kommen, es präziser zu formulieren. Welche Texte entstehen, wenn du nicht im Dialekt schreibst? Es sind vorwiegend Gedichte, lyrische Prosa. Einige Märchen sind entstanden. Sinnsprüche, die im alljährlichen Kalender der Kärntner Schreiberlinge oder im Landkalender des Leopold Stocker Verlags erschienen sind. In Schreibgruppen nehme ich gerne Schreibimpulse von Kolleg:innen auf. So finden Gedanken neue, unbekannte Wege – auch zu Kurzgeschichten. Poetry-Slam war bei uns Kärntner Schreiberlingen auch ein spannender Impuls, sich auf fremdes Terrain zu wagen. Ein laufendes Schreiben sind Kindheitserinnerungen, die jedoch nicht ganz ohne Dialektwörter auskommen. Zudem schreibe ich tagebuchähnlich, jedoch unregelmäßig, zu Themen, die mich im Moment beschäftigen. Zuletzt die Geburt meines dritten Enkels. Du bist Mitbegründerin der Kärntner Schreiberlinge. Wie kam es dazu? Was bedeutet es dir allgemein, Teil einer Schreibgruppe bzw. eines Schriftsteller:innenverbandes zu sein? Eine Freundin, Hemma Schliefnig, die sich mit dem Buch »Meine Mama hat außer Windisch nichts Deutsch können« sehr intensiv mit Muttersprache auseinandergesetzt hat, lud mich zu einer Schreibwerkstatt des Kärntner Bildungswerkes mit Anita Arneitz nach Klagenfurt ein, damit meine schlafende Schreibfreude erweckt würde. Mit Erfolg, denn seither schreibe ich wieder regelmäßig, weil mir die Sinnhaftigkeit durch die Ermunterung und Bestätigung der Gruppe gegeben wurde. Um der Trauer des Endes einer Schreibgemeinschaft zu entwischen, beschloss ein Teil dieser Gruppe, sich – unter der unbezahlbaren Präsidentin Karin Ch. Taferner – weiterhin vierzehntätig zum Schreiben, Vorlesen und Diskutieren zu treffen. Wir sind nun im 12. Jahr, haben persönliche Erweiterung im Schreiben erfahren, viele Lesungen abgehalten und gemeinsam Bücher, Kalender sowie eine CD kreiert. Zudem bringen wir jährlich einen Kalender mit Sinnsprüchen heraus. Ich schätze das Inspirierende, das durch Schreibanregungen, Rückmeldungen, Diskussionen, durch Zuhören entsteht. Ebenso den Austausch von Erlebtem und die Freundschaft, die sich inzwischen entwickelt hat. Die Zugehörigkeit zum Kärntner Schriftsteller:innenverband ermöglicht mir Kontakt zu Literat:innen, die teilweise schon lange schreiben bzw. professionell und erfolgreich literarisch tätig sind. Mich interessiert es, wie schreibende Menschen denken. Mich inspiriert es zuzuhören. Zudem gibt es in dem Kreis die Möglichkeit, an wertvollen Weiterbildungen teilzunehmen, Kritik auf mein Schreiben zu erhaschen und es lesend an die Öffentlichkeit zu bringen. Verrätst du uns noch dein Lieblings-Dialektwort? rogla (2). Dieses Wort wurde oft von meinem Vater verwendet und es ist auch bezeichnend für ihn. ____________________________ 1 Im Lavanttal wird die Jauntaler Karjola zur Radltruchn, auf Hochdeutsch Scheibtruhe oder Schubkarren. 2 bezeichnet das zarte, vorsichtige, achtsame Tun sowie das Lockere, Leichte, Lose im Zusammenhang mit der Beschaffenheit von z.B. Erde oder Schotter oder auch z.B. die lose Verbindung eines Türriegels. Nov. 2024 / mpk Lyrik von Anna Maria Lippitz finden Sie in: Morgenschtean U82-83/ November 2024 (Informationen zur Ausgabe & Bestellung)
- »Das Mülchgschraa ist ja die eigentliche Muttersprache«
Alfred Woschitz im Interview Du bist im Kärnten der 1960er-Jahre aufgewachsen. Vor ein paar Jahren bist du – nach mehreren Jahren im Ausland im Rahmen humanitärer Hilfsprojekte und schließlich in Wien – in das Haus deiner Kindheit zurückgekehrt. Wie war die Rückkehr nach Villach für dich? Das jahrzehntelange Fernsein von meiner Heimat Kärnten hat zu einer gewissen Distanziertheit zu meinem Herkunftsland geführt, nie aber zu einer totalen Abnabelung. Dazu kamen meine Auslandsaufenthalte in einer Zeit der Umbrüche in Europa, wie dem Fall der Berliner Mauer, die Auflösung der Sowjetunion und der Jugoslawienkriege. Dadurch, dass ich die Möglichkeit hatte, politische und gesellschaftliche Veränderung von Innen wie auch Außen zu betrachten, wurde mein Schwarz-Weiß-Denken farbiger und bunter, nicht nur in Bezug auf Gesellschaft und Politik, sondern auch in Kunst und Kultur. Die Rückkehr nach Kärnten in mein Dorf im Norden der Stadt Villach ist bzw. war ja keine »Heimkehr« für immer, sondern dem Umstand geschuldet, dass meine Eltern pflegebedürftig wurden. Du bist ein großer Fan der Dialektliteratur Bernhard C. Bünkers – du hast mehrere Bünker-Lesungen organisiert, derzeit drehst du einen Film über den Schriftsteller. Warum ausgerechnet Bünker? Die Begegnung mit der Literatur Bünkers (bzw. der Bünkers) fand auf den Straßen Wiens, vor einem Antiquariat statt. Aus einer Bücherkiste erstand ich ein Buch mit Gedichten von Otto Bünker, dem Vater von Bernhard C. Bünker. Die Zufallsbekanntschaft mit Axel Karner war schließlich der Impuls, mich auch mit dem Sohn Otto Bünkers zu beschäftigen. Es folgten Lesungen, Diskussionen und daraus folgend die Idee, den Film »Zornige Flucht« gemeinsam mit dem Journalisten und Filmemacher Chris Haderer in Angriff zu nehmen. Du schreibst selbst im Dialekt. Wann hast du damit begonnen – und welche Herausforderungen bringt der Dialekt beim Schreiben mit sich? Der uns angeborene Dialekt, ich nenne ihn »Mülchgschraa«, ist ja eigentliche Muttersprache in uns. Sie entspringt dem Bauchgehirn und sitzt viel tiefer, als wir es wahrnehmen. Es ist also keine Herausforderung, im Dialekt zu schreiben, man muss es nur zulassen und einfach tun. Eine Befreiung gegenüber dem konstruierten Hochdeutsch. Was macht für dich einen guten Dialekttext aus? Wenn der Text vom Hirn in den Bauch und zurück fährt, ohne dass du darüber nachdenken musst. Sätze, im Dialekt geschrieben, können, ohne dass du es wahrnimmst, in dir hängenbleiben. Von Wien bis Kärnten kennt man dich nicht nur als Autor, sondern vor allem als Literaturvermittler. Du hast unzählige Lesungen im Kunstraum »Ewigkeitsgasse« organisiert, du gestaltest Literatursendungen auf OKTO und bist auch als Radiomacher aktiv. Als Vorsitzender des Kärntner Schriftsteller:innenverbandes hast du u.a. das Projekt »flussaufwärts« ins Leben gerufen, das Literat:innen der Länder Italien, Slowenien und Österreich miteinander verbindet. Welches Erlebnis ist dir in besonderer Erinnerung geblieben? Begonnen hat alles auf dem Slawistik-Institut in Wien Anfang der 1980er-Jahre, als ich mit der Literatur der Russischen Moderne in Berührung kam. Es folgten Jahre des Broterwerbs als Projektleiter Internationaler Hilfsprojekte, bis ich schließlich 2005 in der ehemaligen Heimatgasse des 1939 aus Wien vertriebenen Schriftstellers Frederic Morton den »Kunstraum Ewigkeitsgasse« gründete. Der Beginn einer lange Jahre andauernden Freundschaft mit dem in New York lebenden Schriftsteller Frederic Morton sowie auch eines intensiven Kontakts zu Erinnerungs- und Gedenkkultur. Dann war es die tiefe Freundschaft zu Uli Scherer, den bekannten Musiker und Komponisten, der mir den Weg zur »Wiener Gruppe« und in die Literatur der Zwischenkriegszeit (Kaffeehausliteraten) eröffnete. Jahre der Literaturvermittlung folgten, vor allem in der Zusammenarbeit mit Zsolnay und Deuticke. In steter Erinnerung wird mir eine Veranstaltung mit Kindern mit Migrationshintergrund bleiben, die Frederic Morton ihre Texte vorlesen und anschließend mit ihm diskutierten durften. Dann gibt es noch das angesprochene Bildungs- und Literaturprojekt »flussaufwärts – po reki navzgor – contro corrente«, das als Impulgeber für ein globaleres Kulturverständnis im Alpe Adria Raum angelegt war und immer noch ist. Dazu gehört auch das alle zwei Jahre stattfindende Alpen-Adria-Literatursymposion des Kärntner Schriftsteller:innenverbandes, dass im Stift St. Georgen am Längsee stattfindet. Nicht nur als Schriftsteller, auch als Übersetzter, Biograf und Literaturvermittler hast du dir stets die »unbequemen« Themen ausgesucht. Du forderst auch Kärnten heraus, seine Grenzen noch mehr zu öffnen, mehr mit den Nachbarländern in Kontakt zu treten – und das in einer Zeit, in er es wieder vermehrt Debatten um Grenzschließungen gibt. Als Kind im Zollgrenzbezirk zwischen Italien und Österreich (Villach) aufgewachsen hat das Wort Grenze eine tiefere Bedeutung. Jeder Ausflug über die Grenze war mit Warten und Kontrolle verbunden. Dann fielen die Grenzen und ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stehenbleiben« beherrschte lange Zeit den Grenzübergang, bis die Migrationsfrage wieder alles umkehrte und man nun immer damit rechnen muss, auf den Parkplätzen innerhalb Österreichs entlang der Autobahn kontrolliert zu werden. Das stimmt traurig. Verrätst du uns zum Schluss noch deine Lieblings-Dialektausdrücke aus Wien und auch aus Kärnten? Wienerisch: – Hieb (Bezeichnung für Bezirk) – 16er-Blech (Bierdose mit Ottakringer Bier; Ottakring ist der16. Bezirk) Kärntnerisch: – Tasn (Zweige bzw. Äste von Nadelbäumen) – Tschwote oder Tschriasche (tolpatschiger bzw. umständliche männliche Person) – Treappn (dümmliche weibliche Person) – Tscherfln (schlendern, schleifend gehen) – klunzen (kränkeln) – napfazn (leicht vor sich hindösen) u.s.w. Nov. 2024 / mpk Lyrik von Alfred Woschitz gibt es auch in: Morgenschtean U82-83/ November 2024 (Informationen zur Ausgabe & Bestellung)
- »Und kimmt da schwoaze Vogl hea /dem wüll i mi eagebn«
Bernhard C. Bünkers Poesie im Spiegel von Vor- und Nachworten von Axel Karner (erstmals in der Ausgabe U66–67/ 2019 erschienen) Bernhard C. Bünker veröffentlichte zu Lebzeiten 12 Lyrik- und 2 Prosabände. Mit Dazöhl (nix) von daham und der Werkauswahl zommengetrogn erschienen zwei weitere Bücher, in denen Gedichte und Erzählungen, deren Themen sich aufeinander beziehen, formensprachlich unterschiedlich gelöst, eine Einheit bilden. (2) Er hat stets großen Wert daraufgelegt, seine Publikationen mit Vor- und Nachworten aus dem zumeist kollegialen Umfeld auszustatten. Sie sollten sein Werk unterstützen und seine inhaltlichen Schwerpunkte unterstreichen. Mit zwei Ausnahmen: Im 1976 erschienenen Band mit Dialektgedichten An Heabst fia di verzichtet er ganz auf diese besondere Empfehlung, in der Sammlung A schwoaze Blia fia di setzt er an Stelle des sonst üblichen Begleittextes zwei programmatische Zitate. (3) Bei der Auswahl der Autoren der Vor- und Nachworte verließ sich Bünker gerne auf den Zuspruch eines freundschaftlichen Urteils. Ist es für seine Märchen und Erzählungen in Ongst vua da Ongst der Theologe und Psychoanalytiker Koloman N. Micskey, der dieser geradezu therapeutischen Aufgabe nachgeht und besonders das Traumhafte in Bünkers Kurzgeschichten hervorstreicht, wählt er für die politisch-programmatische Auseinandersetzung mit Kärnten ( Wals de hamat is ) den Journalisten Harald Irnberger, der am Beispiel einer unvergleichlichen Menschenhatz gegen Bernhard C. Bünker die politisch-ökonomische Ausnahmestellung Kärntens der ersten Haiderperiode aufzeigt. Im Buch De ausvakafte Hamat ergreift der Freund und Mitstreiter in Sachen Dialektdichtung Hans Haid (verstorben im Frühjahr 2019) – pointierter Kritiker und eloquenter Aktivist gegen einen touristischen »Ausverkauf der Heimat« – das Wort für den »klagenden und schreibenden« Bünker, um seinem Werk trotz inhaltlicher Kompromisslosigkeit und harter Anklage auch eine feine Poesie des »ungemein Zarten,Lyrischen« zu bescheinigen. Fernand Hof[f]- mann, Gründungsmitglied des IDI (Internationales Dialektinstitut), ist in seinen Reflexionen zu Bünkers Poesie in Des Schtickl gea i allan überzeugt, dass dessen ursprüngliche, in den frühen Texten ausgedrückte »Anklage, [eine] Revolte gegen eine gesichtslose und entmenschlichte Heimat [ist, die in] der poetischen Form dieser Aussage aus der Enge heraus in die Weite des Weltliterarischen « (4) tritt. Der Schweizer Mundartautor Julian Dillier, der IDI-Mitkämpfer und mit Bünker Herausgeber der Dialektanthologie Manfred Chobot und der erste Ö.D.A.-Geschäftsführer Hans-Jörg Waldner (1988–2003) vervollständigen diese einstweilige Würdigung des literarischen Wirkens Bernhard C. Bünkers. In der Hauptsache aber übernahm Hans Haid die literarische Einschätzung und eine vorläufige Beurteilung von Bünkers Poesie. Im Nachwort zur Werkauswahl zommengetrogn , Bünkers 1995 letztes zu Lebzeiten erschienenes und bei Carinthia verlegtes Buch, fasst Haid dessen literarisches Wirken noch einmal zusammen und antwortet in einer sehr persönlichen und poetischen Würdigung auf die Frage nach dem, was schließlich von allem übrigbleiben werde, wenn ihn »de oltn freind« verlassen haben werden: »einige davon, da kannst du beruhigt sein, werden die nächsten jahre voller haß, heimatliebe und traurigkeit mit dir gehen, und noch weit mehr davon werden verspätet und erst viele viele jahre nachher diese einzigartige heimatliteratur erkennen.« (5) Dabei gilt es festzuhalten, dass Bernhard C. Bünker, der seine positiven und negativen Kärntner Erfahrungen in seinen Gedichten, Erzählungen, Märchen, Satiren und Drehbüchern literarisch umsetzte – und sich gerade deswegen als »Heimatdichter« verstanden wissen wollte –, den Begriff »Heimat« als Erfahrung eines sozialen Ortes mit ökologischer und solidarischer Verantwortung neu definierte. Die paradoxe »Geographie« seines »heimatlichen«, von Sehnsucht nach kindlicher Geborgenheit geprägten, zugleich aber unbehaust empfundenen Menschseins bringt das Gedicht die welt ist nicht heimat von Peter Paul Zahl auf den Punkt. Bünker stellte es als Motto seinem Gedichtband Dazöhl (nix) von daham voran: heimat – das ist eine kette / um den hals ein amulett / ein verlobungs- ein trauring / ein foto der frau der kinder / ein zeitungsausschnitt / heimat ist was du verbirgst / gefährdet sicherheit und ordnung / heimat steckt zwischen den schläfen / pistolenschussbereit / heimweh ist auftrag / heimweh aufruf zum kampf. (6) Er ersetzte damit den von den Nationalsozialisten vereinnahmten, auf »Blut und Boden« reduzierten und in seiner Menschenverachtung ausgrenzenden, belasteten Heimatbegriff durch ein neues, kritisches Verständnis für ein kulturell-vielfältiges und menschlich-demokratisches Miteinander. Bernhard C. Bünkers erstes Buch De ausvakafte Hamat (Verlag Friedl Brehm, Feldafing 1975) ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswüchsen des Massentourismus in den Alpen als Folge einer maßlos gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prostitution am Beispiel Kärntens. Als gewissermaßen programmatische Grundlegung seines literarischen Schaffens ist für Hans Haid das schmale Bändchen mit 41 Gedichten ein »intensivstes heimaterlebnis« (7), bei dem die einem erzählenden Realismus geschuldeten Gedichte eine »gesichtslose […] entmenschlichte […] von geistigem und materiellem Unrat beschmutzte […] wirkliche heimat« widerspiegeln. Er bescheinigt Bünker eine » tiefe liebe zur heimat […] aus einer ehrlichen sorge« und liest aus Bünkers Texten nicht nur anklagende Kritik, sondern entdeckt, hinter den harten, realistischen Bildern verborgen, auch sein sensibles und emphatisches, lyrisches Talent. Schließlich fordert Haid, selbst Kritiker einer nur an Profitmaximierung orientierten, schrankenlosen und umweltzerstörenden Fremdenverkehrswirtschaft, die Tourismusverantwortlichen auf, zukünftig auf ihren Prospekten Bünkers »kärntner heimattexte « anstelle der gebräuchlichen, verlogenen Werbetexte zu verwenden. In dem folgenden, 1978 in Klagenfurt bei Carinthia verlegten Prosaband Ongst vua da Ongst , einer Sammlung von düsteren Geschichten und Märchen, bestätigt Koloman N. Micskey in seinem Nachwort Bünker eine »aufwühlend, originelle schriftstellerische Erscheinung «. Er nennt ihn einen »Offenbarer vergehenden, haftenden Dunkels « , dessen Erzählungen den »unhellen Mythos einer vergehend-bleibenden Dorf- und Almenwelt « beschreiben. Bünkers archetypische Bilderwelt erweckt bei Micskey traumähnliche Metaphern als Ausgangspunkt tiefenpsychologischer Deutung: »Das Dunkel beweist das Licht durch Wegweisen und das Bergen durch Verbergen. « (Zitat Micskey) (8) Im Vergleich einiger seiner Geschichten mit Werken der Weltliteratur konstatiert Micskey bei Bünker eine Meisterschaft und » Souveränität, [mit der er] ein literarisches Motiv umkomponiert «(9) und dieses auf die soziale Welt des Ostalpenraums und im Speziellen der österreichischen Provinz herunterbricht. Dabei erreicht für Micskey der Dialekt »lite- rarisch Würde und Niveau der Hochsprache « . 1979 erscheint unter dem Titel Wals de Hamat is ein Sonderheft der von Antonio Fian herausgegebenen Kärntner Literaturzeitschrift Fettfleck ( 10) unter anderem als Dokumentation eines »Shitstorms« gegen Bernhard C. Bünker im Zusammenhang mit seinem Aufsatz über das reaktionäre Wesen deutschtümelnder Kärntner, veröffentlicht in der slowenischen Literaturzeitschrift mladje . Das Vorwort dazu schreibt der 2010 verstorbene Kärntner Journalist und Schriftsteller Harald Irnberger, Gründer, Herausgeber und Chefredakteur der österreichischen, politisch-aufmüpfigen Zeitschrift Extrablatt. Irnbergers Beitrag nimmt eine Sonderstellung unter den Vor- und Nachworten ein, da er sich nicht mit der Poesie Bernhard C. Bünkers und den Inhalten der Gedichte befasst, sondern sich anhand des Aufsatzes über den Sinn und Wert des Kärntner Anzugs bei der ihn tragenden Bevölkerung ( Untersuchung zur Korrelation des Kärntneranzuges und dessen Trägern / O razmerju med koroškim gvantom in njegovimi nosilci ) mit den besonderen politischen Verhältnissen in Kärnten auseinandersetzt und damit die politische Basis seiner Dichtung, die persönliche Haltung und seinen Antrieb als Autor thematisiert. In Hinblick auf Bünkers Aufsatz und der hysterischen Reaktion darauf ( »Es ist kein Zufall, wenn in Kärnten eine Abhandlung über ein gewisses Kleidungsstück zum Kardinalproblem hochstilisiert wird – und man folglich über die tatsächlichen Kardinalprobleme hinwegschweigt.« ) verweist Irnberger (Zitat) in dieser Zusammenstellung – erweitert durch politische Gedichte – darauf, wie Bünker von nationalistischen Kreisen zum Feindbild gemacht und sein Aufsatz dazu verwendet wird, um von den realen politischen und ökonomischen Problemen in Kärnten mit seiner Strukturschwäche, den fehlenden Arbeitsplätzen und der Ausgrenzung und Hetze gegenüber der slowenischen Minderheit abzulenken. Für Harald Irnberger ist der Ausnahmefall Kärnten in seiner exemplarisch besonderen Verbundenheit alter Nazis mit Sozialdemokraten am Fall Bünker, der im Landals »Nestbeschmutzer« und keineswegs als Heimatdichter gilt, projektiv abgehandelt. Ein Plädoyer für die Dialektlyrik am Beispiel von Bünkers Dialektgedichten hält der Luxemburger Pädagoge, Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Fernand Hof[f]mann in dem 1980, wieder bei Carinthia erschienenen Gedichtband Des Schtickl gea i allan . In einer ausführlichen Analyse (11), betitelt als »Mundartlyrik gegen den Trend oder Der Mut zur Poesie « , stellt er Bernhard C. Bünker ins Spannungsfeld eines unverschuldet schmerzlich Alleingelassenen und eines bewusst entschiedenen »einsamen literarischen Waldläufers« . Hof[f]mann greift in der Betrachtung der Poesie Bünkers – mit einer Ausnahme ( »Bünkerische Dialektlyrik « ) – auf den Begriff »Mundart « zurück und setzt ihn anstelle des für Bünker so wichtigen Begriffes »Dialekt« als Markierung seiner politischen Intention als Autor. Für Hof[f]mann ist Bernhard C. Bünkers literarischer Weg ein Entwicklungsprozess von anfänglich noch »hörbarer Nähe der Anti-Heimat-Tendenz und des umweltschützlerischen [sic!] Engagements « zu einem politisch nicht mehr engagierten Dichter. Um letztlich aber doch einzuräumen, dass »ein guter Teil dessen, was er schreibt, nur vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten unserer Zeit zu verstehen ist « . Er sieht Bünker weder als »Sprachrohr der bis dahin stummen Volksmassen « , noch als Mundartagitator, vielmehr gewahrt er ihn als einen Autor, der »Poesie um der Poesie willen « schreibt, jedoch anders als in der Theorie des »l’art pour l’art«, als jemanden, der Poesie als »ein Kondensat der Wirklichkeit der Welt versteht « . Hof[f]mann verortet Bernhard C. Bünker literarisch zweifach: einerseits als einen Kärntner »Heimatdichter « (12), der in »Rückbesinnung auf das, was man ist und wie man es geworden ist im Hinblick auf ein besseres Erkennen und Begreifen der eigenen Person « die Kärntner Wirklichkeit erfasst und beschreibt, andererseits als einen verschwenderischen Menschen, der – in der willentlichen Umklammerung der Welt als Liebender – Lebensgefühl und Welterfahrung als Widerspruch »freudiger Diesseitsbejahung und asketischer Weltflucht, sinnlicher Lebensumarmung und mystischer Todessehnsucht « zu einem »erotischen Erleben« vermengt. Damit stellt er Bünkers Gedichte in die Tradition klagender Liebeslyrik, und zwar, wie er meint, des aus der Tradition »zwischen Sensualität und Askese gespannten religiös-erotischen Lebensgefühls « schöpfenden Kärntner Liebesliedes. Die Gedichte stellen in ihrer »Art einen vergeblichen und deshalb elegischen Versuch der Weltumarmung« dar. Die »Bünkerische Dialektlyrik« mit ihrem wehmütigen Grundton bleibt so »einerseits fest in seiner Kärntner Heimat verwurzelt, [diese] ja ohne sie überhaupt nicht denkbar ist «, andererseits identifiziert er eine »kosmopolitische Allüre […] i m Schatten Baudelaires und Trakls, das heißt einer bestimmten Form europäischer Lyrik « . Und meint, wie ja auch Micskey und Haid, in der literarischen Klage Bünkers über eine »gesichtslose und entmenschlichte Heimat « eine Weltläufigkeit zu erkennen, die zwar von der provinziellen »Motivik und Thematik her begrenzt ist « , aber » in demselben Maße in ihrer allgemeinen Aussage und der poetischen Form dieser Aussage aus der Enge heraus in die Weite des Weltliterarischen « tritt. In der Einleitung des 1984 bei Heyn erschienenen Gedichtbandes Wonns goa is (13) schlägt Hans Haid einen fast hymnisch-verklärenden Ton an. Für den »Poeten« Bernhard C. Bünker sei »Poesie die Wahrheit « . Er beschreibe zwar in seinen Gedichten Kärnten als eine seelenlose, entmenschlichte Landschaft (» Die Dörfer in der Heimat verlieren die Gesichter […] Weg von der Provinz ins gestaltlose Niemandsland […] Gesichter der Dörfler werden leer und ausdruckslos «) und verwende dazu Bilder und Metaphern, die an das »kurz zurückliegende Erleben seiner Kärntner Heimat « erinnern. Aber im Gegensatz zu den Verantwortlichen und deren Mitläufern, die über den Missständen im Land »ihre Augen verschließen, […] erkennt und erleidet « er als Dichter. » Das Betroffenmachen und Berühren, das Vorausschauen und das Ahnen ist [dabei] die Sache des Poeten . « Und in der Art und Weise, wie er seine literarischen Bilder »poetisch und dialektmäßig « einsetzt, gibt er – auch in enger Verbundenheit mit den Kärntner Slowenen – »seinen Landsleuten die Sprache wieder «. Für Haid ist Bünker ein »Liebes- und Todeslyriker« , der wie Christine Lavant, die zwar »schriftdeutsch schrieb, aber im Dialekt dachte « , seine Gedichte genauso »bilderreich, verschlüsselt, aus der lebendigen, wirklichen Volkspoesie kommend, in Bildern und Sprache vollwertige Ausdrucksmittel der eigenen Kultur « schreibt. Es sind »die poetischen Bilder einer scheinbar längst entschwundenen Welt « , die »gleichzeitig Dokumente einer hochstehenden Provinzkultur « sind. Drei Aspekte zeichnen Bernhard C. Bünkers Poesie im deutschen Sprachraum als einzigartig aus: Zum einen ist Bünker »trotz der archaisch-altertümlichen Sprach- und Gedankenwelt modern « , zum anderen spiegelt sich in seinen Gedichten eine » Verhaltenheit und eingehaltene Trauer « wider, die nicht dreinhaut oder niederbrüllt, sondern in ihrer »unterdrückten Wut weint « , die »den Mond und den Wind an seiner Stelle trauern [und] den Tod mit seiner weißen Magd mit weißen Mohnblumen in der Hand kommen « lässt. Schließlich stehen seine »Liebes- und Todes- oder Todes- und Liebesgedichte […] i n einer Art Wahn, in Todessehnsucht und Trauer, aber in großer Intensität. [Es sind] Bilder und Gedanken für das Erlebenkönnen, für das Mitfühlenkönnen und der Traurigkeit «. Bei Hermagoras erscheint 1991 eine Sammlung von Texten und Gedichten im Kärntner Dialekt mit dem Titel Dazöhl (nix) von daham . Hans Jörg Waldner steuert das Nachwort (14) bei. Er interpretiert Bernhard C. Bünkers Texte als eine »Symbiose von Poesie und Widerstand.« In dieser Verbindung von epischer Beschreibung und lyrischer Empfindung wird der Leser mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit Kärntens konfrontiert. Die Texte thematisieren die Sehnsucht eines verlorenen und vereinsamten Stadtmenschen ( »obgsoffn in da traurigkeit, … « ) nach Heimat ( »lei ham « ), in der sich aber die Vertrautheit und Geborgenheit vorgaukelnden Dörfer seiner Kindheit als desillusionierende Orte der »Angst, Hinterhältigkeit « und Niedertracht entpuppen. Bünkers »daham« sind keine nostalgischen Kindheitsorte, sondern kennen die zerstörerischen »Mechanismen in Industrie, Fremdenverkehr und dem Landleben im Allgemeinen.« Bei der Frage nach dem soziokulturellen Hintergrund in Bünkers literarischem Werk gelangt Waldner zu einem ähnlichen Befund wie Hans Haid: Die Wut in Bünkers Texten schöpft aus seiner leidvollen Erfahrung des »Kärntnerischen«. Bünker bringt dabei ein zutiefst menschenverachtendes Gemenge literarisch auf den Punkt. Die »Bilder und Metaphern in seinen Gedichten [sind] karg, doch gestochen scharf.« Der Dialekt ist »souverän und kompromißlos « . Für Hans-Jörg Waldner ist Bernhard C. Bünkers Schreiben über die Heimat kein larmoyantes Gefasel der »Heimatverschönerer« und »Grenzlandkameraden « , sondern die aus seinem sozialen Gewissen angetriebene Zurückführung eines nationalistisch und völkisch vereinnahmten Heimatbegriffs. Die Gedichte und Geschichten, die von unbändiger poetischer Kraft zeugen, ergreifen dabei immer »Partei für Benachteiligte, Gegängelte, Bevormundete « . Das Nachwort des Basler Mundartautors, Theater- und Radiomannes Julian Dillier zu Nochamol z’rucklafn (Verlag Heyn 1988) vermerkt eine »selbstkritische Inventuraufnahme zum 40. Geburtstag« , eine Art Beichte und Bilanz. Es ist »ein Geständnis ohne Angst « (15), bei dem Bünker nicht bloß zurückschaut, sondern seinen bisherigen Lebensweg zurückläuft, »gewillt, seinen Weg zweimal zu gehen, […] weil es ihm ist, es müsste dies und das anders werden.« Dabei erinnern die aufgesuchten Orte – allesamt Stationen seines Lebenslaufes – an »Kreuzwegstationen« oder an »Rastplätze, auf denen man gerne verweilt, weil sie an Gutes oder vielleicht auch wohltuend an Schmerzliches erinnern «. (16) Trotz dieser tröstenden und gar heilenden Konnotation, bescheinigt Dillier den Gedichten einen elegischen Grundton. Nur »in wenigen schimmert Zuversicht auf, [etwa] wenn die Rede ist von lieben Kreaturen, von Bienen, Schmetterlingen.« Vielmehr ist für ihn in Bünkers Gedichten »die Rede von Enttäuschungen […] Oft zittert auch Angst mit, etwas zu verlieren, spricht er seinen Monolog über Brüchigkeit der Gefühle, über Freundschaften, erinnert er sich an Erfahrungen, zigeunert [sic!] er durch Landschaften der Traurigkeit, dann wieder durch Landschaften, die ihn an eine Heimat erinnern, wo man sich wohlfühlt, […] der immer noch die KZ-Beule anhaftet.« Um schließlich im pessimistischen Ton zu resümieren: »Es ist nichts mehr wie früher, aufbewahrt bleiben nur die Erinnerungen. « Schwarze Vögel, Kirschbäume im Schatten, schmerzende Schneenadeln, verbrannte Hände. In dem Auswahlband Lei nit lafn onfongen (mit Schallplatte), 1988 im Krefelder Van Acken Verlag erschienen, meldet sich Hans Haid mit einem Nachwort neuerlich zu Wort. In seinen Ausführungen zu den Texten in Kärntner Dialekt (17) stellt er Bernhard C. Bünker als einen »aufsässigen, querköpfigen, poetischen Heimatdichter « vor, der auch aus Angst vor »den Marschierern, den braunen Heimatdienstlern, den Betonierern, den Staumauerverbrechern « gegen das große, von diesen verursachte Leid anschreibt. Dabei sich aber selbst aussetzt und exponiert »als Leidender, als Schöpfer, als Künstler, [und] als Rufer « immer »ganz vorne mit dabei « ist. Haid zählt die Gedichte, die von einer »schlichten Bildhaftigkeit wie in allerbester Volkspoesie « getragen sind, zu den besten Dialektgedichten; immer mit Blick auf den vielgestaltigen, kulturellen Hintergrund Kärntens: »Durch und durch slawisch ist die schwere Bilderwelt. « Bünkers Liebesgedichte – Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Geborgenheit – sind für Haid jenen H. C. Artmanns mehr als ebenbürtig. Haid sieht Bünkers Antrieb zum Schreiben im »Haß und [der] Traurigkeit « eines »Grenzgängers « ( »Immer hart an der Drau […] bei den Slowenen, bei seinen Freunden, bei seiner slowenischen Freundin, bei den Schwächeren, den Getretenen, den Grenzgängern. « ) gepaart mit einem zerbrechlichen Heimatverständnis ( »Konflikt mit der schwarzen Angst und dem braunen, dem deutschnationalen Heimat-Dienst « ). Das Vorwort zu seinen Satiren (Verlag Buchkultur, 1990) verfasst schließlich der langjährige Freund und Schriftsteller Manfred Chobot.(18) Er hält über Bernhard C. Bünker alias Florian Leposchitznig, »Kärntner aus Passion und von Geburt […] «, Folgendes fest: »Als Heimatdichter hat er sich auch auseinandergesetzt mit den politischen Verhältnissen in seiner Heimat, mit der Vergeßlichkeit mancher Politiker, mit dem, was nämliche Volksvertreter unter Kultur verstehen oder nicht verstehen, denn selbst der genialste Politiker ist auch bloß ein Mensch. […] Bernhard C. Bünker liegt etwas an seiner Heimat, er nimmt Heimatliebe wörtlich und ernst, und er mißbraucht sie nicht als Vorwand, um Ungerechtigkeit und Verlogenheit unter dem verhüllenden Lodenmäntelchen der Heimattracht weiterhin ungeniert zu betreiben. Weil ihm die Heimat am und im Herzen liegt, schreit er und wehrt er sich, verteidigt sie.« Um im Sinne des Heimatdichters Leposchitznig schließlich zu behaupten: » Der Wirklichkeit ist wirklich nur satirisch beizukommen. « Und letztlich auch nur so zu ertragen. ________________ Anmerkungen 1 Bünker verwendet die Verse als Motto in: Nochamal z´rucklafn. Büldaschticklen aus fost viazg Joa. Verlag Heyn, Klagenfurt/[Celovec] 1988. [=Bünker, z’rucklafn] »Und kimmt da schwoaze Vogl hea / dem wüll i mi eagebn – / Hob donn ka Ongst vuam Schteabn mea / Fiacht mi nit mea vuam Leben […]« (nach einem alten Volkslied) 2 Nach Bernhard C. Bünkers Tod 2010 wurden bisher vier weitere Bücher mit seinen Texten veröffentlicht. 3 Bernhard C. Bünker: Schwoaze Blia fia di. Klagenfurt/Celovec, Ljubljana, Wien/Dunaj, Hermagoras/Mohorjeva 1993; S.5 [=Bünker, Schwoaze Blia] »[…] die Welt der Dichter ist nicht die Schöpfung tieferer Einsicht, sondern heftiger Sehnsucht […] «. (Thornton Wilder, Die Iden des März) »[…] während des Tages versuchte ich den ausgelegten Fallstricken zu entgehen, und die Nächte waren voller unsagbarer Greul […]« (B.[ernhard] C. Bünker, Tagebucheintragungen, Sept[ember] 1979) 4 Bernhard C. Bünker: Des Schtickl gea i allan. Klagenfurt/Celovec, Carinthia 1980; S.68 [=Bünker, Schtickl] 5 Bernhard C. Bünker: zommengetrogn. Werkauswahl. Hrsg. v. Wilfried Gindl. Mit einem Nachwort von Hans Haid. Klagenfurt/Celovec, Edition Carinthia 1995; S.214ff. 6 Bernhard C. Bünker: Dazöhl (nix) von daham. Texte und Erzählungen im Kärntner Dialekt. Klagenfurt/Celovec, Wien/Dunaj, Hermagoras Verlag/Mohorjeva založba 1991; S.5 [=Bünker, Dazöhl (nix)] 7 Bernhard C. Bünker: De ausvakafte Hamat. Friedl Brehm, Feldafing 1975; S.3 8 Bernhard C. Bünker: Ongst vua da Ongst. Carinthia, Klagenfurt 1978; S.101 [=Bünker, Ongst] 9 Bünker, Ongst aaO. S.102 10 Bernhard C. Bünker: Wals die Hamat is. Eine Fettfleck–Sonderausgabe. Herausgegeben von Antonio Fian. Fettfleck – Kärntner Literaturhefte, Spittal a. d. Drau, Wien 1979; S.6ff. 11 Bünker, Schtickl aaO. S.66ff. 12 Bünker, Schtickl aaO. S.67 13 Bernhard C. Bünker: Wonns goa is. Texte im Kärntner Dialekt. Heyn, Klagenfurt 1984; S.5ff. 14 Bünker, Dazöhl (nix) aaO. S.166ff. 15 Bünker, z’rucklafn aaO. S.112 16 Bünker, z’rucklafn aaO. S.111ff. 17 Bernhard C. Bünker: Lei nit lafn onfongen. Texte im Kärntner Dialekt. Mit Schallplatte. Van Acken, Krefeld 1988; S.73ff. 18 Bernhard C. Bünker: Satiren. Mit einem Vorwort von Manfred Chobot. Verlag Buchkultur, Wien 1990; S.9
- Eine Annäherung an den Loosdorfer Dialektlyriker Walter Seisenbacher (1951–1983)
von Mario Huber Mit herzlichem Dank an Traude Seisenbacher für ihr Einverständnis, Seisenbachers Gedichte in diesem Umfang verwenden zu können Irgendwo fremd zu sein ist auch ein Vorteil. Wenn die Dinge sich nicht sofort in verwandten Bahnen bewegen, Kauz und Kuckuck schreien und der aufgetischte Schotter unter den Reifen knirscht. Langsamer werden, Radio aus, Fenster runter. Warten und nachdenken – und sich fragen, wo man da eigentlich gelandet ist, mit seinen verstaubten Kotflügeln. Die überschaubar wenigen Gedichte von Walter Seisenbacher (1951–1983) aus Loosdorf in Niederösterreich sind in diesem beweglichen und zugleich festgefahrenen Sinn fremd. Gehen fremd. Fremdeln. Sind weit weg vom gewöhnlichen Heimatverklären der gängigen Dialektliteratur. Damals und heute. Ein Gedichtband, ein paar verstreute Texte in längst vergessenen Literaturzeitschriften graben in der Wildnis des österreichischen Sprechens und Denkens ihre Bahnen. Eine unbegreifliche, abhandengekommene Welt wird dem Verstehenwollen ausgesetzt, ihre Aufnahmebereitschaft hält sich aber bedeckt und hütet sich. Lüftet nichts, nicht einmal zum Gruß. Seisenbachers Welt ist sehr kalt: Hier hört und sieht und fühlt niemand jenseits der eigenen Körpergrenze. Und wenn doch, dann hat er oder sie es gefälligst für sich zu behalten, Passierscheine werden nicht ausgegeben. Probieren kann man es ja trotzdem. Begleitet wird jede Aufzeichnung der Übertretungsversuche von Frage- und Rufzeichen. Antworten bleiben aus oder sind verheerend. Irgendwo ist die Kette schon lange gebrochen. probias amoe aus! probias amoe aus waunz da recht drekig ged und schtöö di mitn untad leid und los aussi deine uakrämpf und schrei: höefz ma! i brauch wen! oda: probias amoe aus waunz da recht leiwand ged und schtöö di mitn untad leid und loch an jedn ins gsicht und schrei: waunz wen brauchz – i, i hüf eich! probias amoe aus probias amoe aus und i garantia da: so oda so: de fian de afoch o. [1] Die nicht einmal 60 veröffentlichten Texte Seisenbachers zeigen ein einseitiges Sprechen, ein Redenwollen, bei dem nur der Durchschlag weitergereicht wird oder das Gegenüber längst weitergeblättert hat. Keine Widerrede wird gegeben, das Befolgen von Regeln steht im Mittelpunkt der Familienbilder mit Diwan und Psyche. Vor allem dieser Erbkern zieht seine Kreise, in allen Farben eines sehr ungemütlichen Regenbogens. wos a kind heitzudog oes gsogt kriagt du, mia foan jetz! und waasd eh: waunz finzta wiad, gesd schloffn! los ned den küschraunk offn! mid mixa schbün is gfealich! bleib imma braf und ealich! fagis a ned aufs woschn! du waasd, du soesd nix noschn! moch uadnung in dein zimma! den lula brauch ma nimma! und wosch da a dein hoes! (da libe gott siach oes) und schoet den feanseha oo! und bitte gee aufs kloo! und leg di pünktlich nida! zum frühschtük siaxt unz wida! tschüss! [2] Wie die andere Seite der Ermahnungen und Drohungen schließlich damit umgeht, ist im einzigen, postum veröffentlichten Gedichtband Grauer Schmetterling , gleich auf der folgenden Seite nachgezeichnet. Eingedenken in den Familienbenjamin, der die Vorerfahrenen in sich und auf sich zu spüren bekommt. Die Angst vor der Hilflosigkeit der Eltern, die Angst vor der nicht gewürdigten Anstrengung, vor der vermutlich mundabgesparten Gabe, treibt ihre schlumpfigen Früchte. gebuazdog a duatn – a hosn und schlumpfi a poa da foda is bsoffn und foad ma duachd hoa a mädschbox – a biachl: „schlumpfi schlumpfd am zaubersee“ die mama mochd benco und fian fodan an kafee a lego – a füzschdift a schlumpfiquardett mei schwesta hod kopfwee und ligt scho im bett owa i, i muas aufbleim und mi gfrein wia a noa sunst griag i a dädschn (so wia im furign joa) [3] Später wiederholt sich die Szene wieder und wieder, durchaus mit wechselndem Personal. Die überantworteten Hülsen einer zur Schau getragenen Meinung stanzt da auch ein Lehrkörper in das zu prüfende Gefäß. Ein Loch ist im Eimer, i bin fola lecha [4] nennt Seisenbacher ein Gedicht. In Klassenräumen und ähnlichen Kämmerlein ist das Sprechen des maßgeblich Versiegelten schon so weit gediehen, dass die hingerotzten Gemeinheitsplätze ungefiltert zurückgeechot werden. Der Beruf führt verschließlich zur Einberufung. de leazeid is ka leere zeid! in meina leazeid haums ma lauta wichtige sochn beibrocht! zum beischbüü waas i jetz: das mei masta imma recht hod, und das de geweagschoft imma liagd. das unsa bedribsrod schau long nimma gwöed kerad, und das da schef a neiche freindin hod, und das de freindin unsa leamensch is! i waas jetz aa: das de leabuam muazdrum frech san, das de tschuschn schdöen und liang dan, das aum heisl imma graugt wiad, und das ma fia de übaschdundn kan groschn mea zoed griang! und das unsa geweabe aum saund is, und das ma woascheinlich e boed zuaschbean kenan – und das ma olle midanaunda sowieso de ewig augschmiadn san – das waas i jetz aa! in mein gsöenbriaf schded: i hob mein "Lehrziel mit Erfolg erreicht"! [5] Doch noch ein Schmunzeln, vielleicht. Angekommen, erreicht, ja. Eine Auskunft darüber, wo das jetzt ist, lässt sich aber weder ergattern noch ergaunern. Vielleicht doch umkehren? Eine Wurzel des Kreislaufs, der das sündige Denken in den sündigen Körper leitet, ist auch in der niederösterreichischen Pampa die katholische Kirche. Dort werden die sündigen Taten, die sich über die sündigen Hände, Finger und das wahnwitzigste aller sündigen Glieder in die Welt ergießen, erst frisch hergestellt und rissverpackt mitgenommen. Alpha und Romeo, lebenslange Garantie. Glaubt man den Aufzeichnungen von Trude Marzik, die Seisenbacher einige wenige Jahre mit unterstützenden Worten und Briefen begleitet hat, war allem Vorbehalt zum Trotz ein gewisser Pater Michael ein Freund der Familie. [6] Ein typischer Widerspruch im Land der TöchterSöhne, der sich gut zum Versteigen eignet. Das lassen wir aber. mid da tauf faungz au kaum woar i auf da wöed, haums mi gschnappt und in a kiachn drong und tauft. oba i hob ned woen. und rechd gschdramped. und laud gschrian. da pforra hod glocht! de mama hod glocht! de fawaundn hom glocht! da papa hod fotografiat. und jetz auf amoe woar i a grist! reingwoschn. unschuidig. sindnfrei. und wäu i jetz a brafa grist woa, hob i betn gleant. hob i a schuzengal griagt. hob i fom himmifata dramd. und wäu i jetz a brafa grist woa, haums ma gsogt: walta, waunzt aufs topal gest, schbüü di jo ned midn lulu! und ois brafa grist bin i in da schui in religionzuntarichd gaunga: lauta remische ansa! und oes brafa grist waor i natüalich a ministrant: mia radschn, mia radschn den himmlischen gruas... und ois brafa grist hob i a schlechz gwissn kobt, waun i ma hamlich im doktabiachl a nokate frau augschaud hob. und ois brafa grist hob i ma nie draud das i a mal augreif und zoat schdreichld. und ois brafa grist hob i kiachlich und jungfräulich keirat. und ois brafa, brafa grist hob i mei kind sofuat taufn lossn! oba, schdöezz eich fua: dea bua hod ned woen. dea hod rechd gschdramped! und laut gschrian! i hob e a poa foto gmocht. woaz, i zags eich schnöö. wo hob is den? ... wo hob is den? [7] Der Vater, der Sohn, der heilige Kreis. Eine Biografieangabe, eine verendende Geschichte im dunklen, heimischen Nestbeschmutzungsgang. Man tut eben, was sich gehört, wann es sich gehört und mit wem es sich gehört. Gefühlt wird, ja, aber mit den Händen immer in Sichtweite. Was hinter den geschlossenen Türen für Anstalten gemacht werden, wer dann da wirklich was tut, das übergeht man lieber. Wer bei Seisenbacher spricht, ob er seinen eigenen Abgekommenen beobachtet oder ob er sich in seine eigene Kinderstube zurückdenkt, bleibt offen. Zeit spielt eine untergeordnete Rolle in diesen Texten, kommt doch alles alles alles immer immer immer wieder wieder wieder. Kreiselt, bis es eben nicht mehr geht. mei klane schwesta mei mama woa im schbidoe und wias zrugkumma is hoz a klans puzal midbrocht. des is dei schwestal hoz gsogt: des muast geanhaum. mei mama is jetz gaunz aundas. den gaunzn dog und de hoabate nocht drogz des puzal umadum! oba fia mi, fia mi, hoz ka zeid, hoz ka zeid mea, fia mi... maunchmoe, waun de mama gschwind in d kuchl ged renn i zum kindawong und zwik des puzal gaunz fest in de waungan oda reiss be de fiass oda faschdek eam in lula. daun faungz au zum plazzn, bis de mama kummt, und de mama schreit a: los des puzal in rua!! dea den puzal ned weh!! des puzal is noo zklaa zum schbün! gee in dei zimma! waun do de mama daumoes ned in des komische schbidoe gfoan waa! i wia mei klane schwesta nia geanhaum kenna … [8] Der will doch nur spielen, reimt mann und frau sich händeringend zusammen, damit die Welt sich nicht in bessere übergeben muss. Kurz zusammengeschlagen. Der Kreisel eiert, er zeigt auch Veränderungen. Nicht alles bleibt, wie es ist, manches wird sogar schlechter. Dabei gibt es immer wieder Versuche, jemanden in die eigene Wahrnehmung einzuladen. Mal zeigend, mal hinweisend – es ändert sich viel, gebaut muss schließlich werden. Gerade am Land, wo doch so viel Platz ist. Woher wüsste man überhaupt, wie Natur auszusehen hat, wenn es nicht den BillaSparHoferMondoparkplatz gäbe? i zag da wos: schau! duat om. zwischn de heisa, des schdikl weis – des is a woekn! schau! duat zwischn da schtrossn, des schdikl grea – des is a gros! schau! duat hintn, wos des neiche kaufhaus baun – des woa bis jetzt a pak! schau! gschwind schau! a eichkazal. a eichkazal … odar woas a rozz? [9] Zwischen den ganzen Anrufungen, von Bonifatius bis weiter unten im Heiligenlexikon und den ausgebliebenen Antworten von weit näher am Herzen und Ort des Huthinhängens kommen dann doch kleine Oasen des Miteinandersprechens. Aber die Antwort, die man möchte, muss man sich erst zurechtschnitzen, wenn man nicht schnell die Fenster wieder hochkurbelt, hochkurbeln muss, und sich unter den Scheibenwischern versteckt. Dieses Witschwatsch und Zischkrach hinter der Scheibe ist zumindest bekannt. easchte libe mia maum a mal in da klass. de mizzi is. aus sizzntoe. waun mi de auschaud, wiad ma haas. de mechd i heiratn amoe! si schaud so wiar a fümschdaa aus – de wangal rod, de zepf so laung. heit hauma zwaa schdunt frira aus – i gee in park, woad auf da baung … und waunz fabeikumd, schpring i auf. und schrei: mizzi! sizz di hea zu mia! jo kumsd den ned fa söeba drauf wia grosse sehnsucht i faschbia? i schdee auf dii! i hob di gean! du bist mein traum, mein lebn. du muast amoe mei weibal wean! i wia da ollas gebn! do fliang de zepf! und di mizzi locht! si schaud mi gliklich au. und daun sogz: guat is! obgemocht: du wiasd mei easchta mau! [10] Die Enttäuschung ist groß, erster sein zu dürfen, liest man in den Text rein, wenn man ihn neben den anderen röntgt. Ein läufiges Leben steht in den Kinderbeinen und dazwischen also im Melker Umland schon fest. Welchen Unterschied ein Wörtchen machen kann. Schweigen wäre [unleserlich]. Eins, zwei, drei: Zählbar wird das Leben viel zu leicht und damit schwer, auch wenn es um andere Freundschaften geht. meine habara untatitl: da egon, da schual und da bert – a so a freindschoft is wos wert! […] und wos ma de weat is, des sog i eich aa: im gaunzn schau sex hundata!! [11] Geburt, Kindheit, Ausbildung, Kirche, Liebe, Freundschaft: Wenig bleibt, was hier dem Dasein zugutegehalten werden kann, wie es scheint. Kalt ist’s hier, wie gesagt, ziehen tut’s, gerade hin und weg vom Herzen. Denn die Wegweiser kann man durchaus umdrehen, sich gegen sich selbst richten, erstmal in der sanften, nicht der vorwegnehmenden Art und Weise. Der Versuch der Selbstbesserung, ver und überhaupt, eines Ausbrechens aus dem ewigen Kreisen und Bausparvertragseinzahlen. medidation waun i meditian wüü daun moch i oes easchtas imma de fenzta zua und gib de rollo oba. daun zint i a poa keazzn au und a poa indische reichaschdabal und an glan kessl mid an weirauch. daun moch i an tee leg a saunfte plottn auf und bind ma meine hoa hint zaum. daun ziag i mi um und hoe mei afghanische dekn und probia drauf den sünburmesischn lotusblütnsitz. daun les i noamoe noch im „großn jogabiachl“: wiar i sizzn muas wiar i otmen muas wiafüü zeid i hob und wo des dritte aug hinleicht. daun faung i au zum meditian... meditian des haast: ollas ringshearum fagessn. [12] Fast müsste einem beim Lesen ein Lachen auskommen aus der fast schon zugeschnappten Falle. Ertappt beim Einkaufen für zukünftige Heilsversprechen, fühlt man in der Meditation den eigenen Pulsverschlag. Wissen macht halt noch nichts, die Selbstbeobachtung führt nicht unbedingt in die Bedingungslosigkeit, denkt mann und frau vielleicht außensichtig. Vielleicht nochmals die Blickrichtung ändern, wenn man denn schon schoßige Wurzeln geschlagen hat. Den Feldstecher auf die anderen richten. Die Ablenkung, das Dazugehörenwollen, das Ameigenenstatusarbeiten kann doch ebenso ein Einrichten in der Welt sein. Endlich die Vielfalt erkennen, die man bis zum Ende wenn nicht in-, dann zumindest kohabitiert. da fäabige feanseha heit haum ma se an kaft. und jetz is eascht drei! oba unta da wochn faungt s feansen eascht um hoeba sexe au. (s testbüd is zwoar a schee fäabig – oba des wiad ma schau laungsaum fad) heit schpüns zeascht an französischkuas: paale fuze wuu? (in foabe!) daun s östareichbüd: (i bin neigierig, wia de klinga augschmiad is) nochhea: zeid im büd (s easchte moe a rotes bluat!) schbeda is a oeda heimatfüm. (in schwoazzweiss? – de oaschlecha!) daun is no da club zwaa (ob da nenning schau graue hoa hod?) und nochhea? is leida schluss. hofndlich gibt dea klane gschropp oba heit a ruah! [13] Aber auch hier wieder Überforderung, abdriften, wegdriften, der einzige Wunsch, wie es scheint: den Sohn oder die Tochter, geschlechtslos im Angesicht des Herrn, aus den Augen und Gedanken verlieren. Wenn der Tank bereits leer ist, möchte man meinen, und auch sagen. Weiter weg, nicht nach innen, auch nicht nach außen blicken, wirklich die Beine in die Hand nehmen und in die echte Fremde, ein anderer Ort, eine andere Zeit fast. Eine bessere Vergangenheit, eine einfachere Zeit, die man sich zusammenreimt. Auch das passiert jenseits des üblichen Dialektheimatkitsches, mit dem Muatal am Herd und dem Vota mit der Pfeifn in der Stubn beim gemeinsamen Beten. Weg aus dieser fremden Welt, mit ihrem Konsum und ihrer Kälte, „FROMMer“ werden, wie Seisenbacher in einem Inoffiziellen Lebenslauf [14] schreibt, der in seinem Gedichtband abgedruckt ist und der stückelweise mehreren Briefen an Trude Marzik entnommen ist. Frommer im Sinne des Analytikers Erich Fromm, den er gerade gelesen hatte. Durch die Scheibe führt der Weg, vorbei an den Wischern, vorbei an der wirklichen Welt in eine zusammengesponnene, eine redaktionell bearbeitete, eine Abenteuerwelt. In erlesenes Sein. der ruf der wildnis i hob an füm gseng. im feansen, üba alaska. schdöez eich fua: duatn gibz heite no, in unsara modeanen zeid, trappa! foenschdöla! goedgroba! und woefsbluadige schlittnhund! genau a so wiar in de oedn biachl fom tschek london. i wüü jetz nimma fakeifa wean – beim hatlaua – so wia mei papa. i wüü a nima in i hechare schui, und rechd gschdudiad wean – wia sis mei mama oewäu eibüt … [...] i mechad fuat! waunz ged no heid. [...] (pfiad eich, leid) [15] Pfiad di. Das Ende von Walter Seisenbachers Leben muss nicht erzählt werden, die Minusrechnung der Jahreszahlen ergibt schon im Überschlagen das richtige, wenn auch tatsächlich falsche Ergebnis. Der löchrige Walter wird soweit eine Leerstelle bleiben. Seisenbacher, von dem Jörg Mauthe nur zu schreiben weiß, dass er unwissend neben ihm gesessen und ihn nicht kennengelert habe, weil er da war, „ohne auch nur einmal den Mund aufzutun“ [16] . Die Texte sprechen, mit ihrem eigenwilligen Sagen, ihrem um Verständnis ringenden Insistieren, ihrem Fragen und Rufen. Vielleicht findet sich auch heute noch kaum eine Antwort. Zumindest kann man die Anliegen weitergeben, durchreichen, bevor man sich seine Flügel putzt und in bekanntere Gebiete weiterfliegt. Gerade, wenn sie einem zunächst ein wenig fremd erscheinen. Literatur von Walter Seisenbacher Walter Seisenbacher: Grauer Schmetterling. Niederösterreichisches Pressehaus 1983. „i suach auf olle schdean“. Gedichte von Walter Seisenbacher. in: Wiener Journal November 1980, S. 20. [Texte: hüfe; i zag da wos:, de technik; mia brauchn kann kriag mea; epilog] Gedichte. in: das pult. literatur kunst kritik 59 (1981), S. 13. [Texte: i zag da wos; moxd mi nimma?; de technik] meine habara. in: Bakschisch. Zeitschrift für humorvolle und skurrile Texte 3 (1981), S. 21. buschwindröschen. in: Bakschisch. Zeitschrift für humorvolle und skurrile Texte 4 (1982), S. 60. i bin fola lecha. in: das pult. literatur kunst kritik 68 (1983), S. 69. Gedichte. in: HEIMATLAND. Literatur aus Österreich 4 (1988), S. 120-121. [Texte: schbed – oba do; duat in da wisn ligt ana] Literatur über Walter Seisenbacher Jörg Mauthe: Walter Seisenbachers Gedichte. in: Wiener Journal November 1980, S. 20. Trude Marzik: „Es muass do irgendwo an Weg gebn. Eine Dokumentation in memoriam Walter Seisenbacher“. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturachiv. Nachlass Trude Marzik (LIT 452/17/W17) 1 Grauer Schmetterling, S. 7. 2 Grauer Schmetterling, S. 24. 3 Grauer Schmetterling, S. 25. 4 das pult 68, S. 69. 5 Grauer Schmetterling, S. 43. 6 Trude Marzik, In Memoriam, o.S. 7 Grauer Schmetterling, S. 30-31. 8 Grauer Schmetterling, S. 28-29. 9 Wiener Journal, S. 20. 10 Grauer Schmetterling, S. 23. 11 Bakschisch 3, S 21. 12 Grauer Schmetterling, S. 9. 13 Grauer Schmetterling, S. 39. 14 Grauer Schmetterling, S. 64. 15 Grauer Schmetterling, S. 40-41. 16 Jörg Mauthe, Wiener Journal, S. 20.
- Zum 90. Geburtsag von Traude Veran
Ein Schreibtisch mit einem riesigen Bildschirm – das ist das Erste, was ins Auge sticht, wenn man das Zimmer von Traude Veran betritt. Im Jänner hat die Schriftstellerin ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert, jetzt besuche ich sie in ihrer freundlichen kleinen Wohnung im Seniorenwohnheim auf der Wieden. Eine prachtvoll blühende Orchidee am Fenster, auf dem Bett liegt schon das Plakat für die Literaturvitrine bereit, die Veran gemeinsam mit einer anderen Bewohnerin jede Woche neu gestaltet. »Ich schaue, dass am Abend immer alles bereitliegt«, verrät mir die Autorin schmunzelnd. »In meinem Alter weiß man ja nie, was der nächste Tag bringt.« Wir nehmen an einem Tisch Platz, auf dem eine elegante schwarze Teekanne bereitsteht. Verans Hände zittern ein wenig, als sie mir vom Tee einschenkt. Dass sie ihre zweite Leidenschaft, das Fotografieren, leider aufgeben musste, erzählt sie mir. »Für meine Lichtbildvorträge suche ich mir das Material jetzt meist aus der Bücherei zusammen. Die hat ja zum Glück viel zu bieten.« Manchmal gestaltet Veran noch einen solchen Vortrag – für ihre Mitbewohner:innen und andere Interessierte. Im Haus Wieden freut man sich über ihr Engagement. »Dass ich mich gern mit dem Grätzl, in dem ich lebe, auseinandersetze, hat begonnen, als ich noch im Haus Rossau in der Seegasse gewohnt habe. Dort habe ich von meinem Fenster aus direkt auf den jüdischen Friedhof geblickt. Ich wollte damals unbedingt mehr über seine Geschichte herausfinden.« Aus Verans privaten Recherchen wurde schließlich ein Buch. »Das steinerne Archiv – Der Wiener jüdische Friedhof in der Rossau« [1] erschien erstmals 2002 im Mandelbaum Verlag, vier Jahre später folgte die überarbeitete Zweitauflage. Auf beinahe dreißig literarische Veröffentlichungen kann Veran zurückblicken, außerdem auf zahlreiche Fachpublikationen, Sachbücher und Übersetzungen. Breitet man ihre Bücher auf einem großen Teppich aus, so wie ich das gestern getan habe, fällt sofort die Vielfältigkeit und auch die Experimentierfreudigkeit der Autorin auf. Mein Koffer ist mittlerweile ziemlich schwer – zu Hause in Graz will ich mich nämlich näher mit Verans Werk befassen. Heute jedoch möchte ich Traude Veran persönlich kennenlernen. Es ist nicht nur die Schriftstellerin, die mich interessiert, sondern auch die Psychologin und Sprachwissenschaftlerin, die für zwei Errungenschaften verantwortlich war, die mein eigenes Berufsleben als Pädagogin geprägt haben. Erstens: Das Integrationsgesetz für Schulen aus dem Jahr 1993, an dem sie federführend mitwirkte. Zweitens: Die Rechtschreibreform, die 1996 in ihrer ersten Form umgesetzt wurde, und bei deren Einführung sie sich beteiligte. Die Kraft der Worte Wenn du 1934 als Mädchen zur Welt kommst, ist dein Weg so gut wie vorgezeichnet. Deine gesamte Erziehung dient nur einem Zweck: Du sollst einen braven Mann finden, am besten eine gute Partie. Traude Verans Kindheitsjahre fielen in die Jahre der Nazi-Ideologie. Der große, der abscheuliche Krieg, der die Welt entmenschlichte. Vielleicht, denke ich, waren die fiktiven Geschichten ein bisschen wie ein unbeobachteter Schlupfwinkel, in den sich die kleine Traude zurückzog. Doch das Mädchen behält seine Phantasie nicht für sich, es lässt die anderen Kinder teilhaben. »Die Stimmung in den Luftschutzkellern war eine sehr bedrückende. Jeder hatte Angst und die Kleinen haben natürlich viel geweint. Meine Geschichten haben die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Die Kinder sind an meinen Lippen gehangen, dafür waren mir die Mütter dankbar. Ich weiß nicht, ob den Erwachsenen meine Geschichten genauso gut gefielen wie den Kindern, aber sie haben mir aufmerksam zugehört. Vielleicht wollten sie aber auch einfach nur sichergehen, dass ich keinen Blödsinn erzähle«, erinnert sich Veran lächelnd. Traude Veran (geb. Gertraud Kotrc) und ihre Mutter sind auf der Flucht vor den Bomben. Von Wien geht es zuerst nach Vießling in der Wachau und dann nach Krems, anschließend flüchten die beiden weiter nach St. Johann/Pongau. Das erste Gedicht, an das sie sich erinnert? »Das entstand während ich auf einem Lastwagen saß, auf unserer Flucht, mit den Tieffliegern im Rücken. Ein Gedicht über einen blühenden Apfelbaum war das. Ein schönes Gedicht eigentlich. Das war wohl der Selbsterhaltungstrieb.« Vielleicht hatte die Flucht am Ende etwas Gutes. Zwar habe sie sich anfangs in der Hauptschule in St. Johann furchtbar gelangweilt, da ihre Klasse in Wien schon wesentlich weiter gewesen sei, im Gegensatz zu ihrer Mutter habe die Schwester ihres Vaters ihr Talent jedoch erkannt. Ihre finanziellen Zuwendungen und ihr Zuspruch ermöglichten es schließlich, dass Veran die Ausbildung zur Sozialarbeiterin machen konnte. Im Dienste der Benachteiligten Nach ihrem Abschluss mit Diplom bewirbt sich die junge Sozialarbeiterin bei der Kriminalpolizei. »Ich wollte Polizeifürsorgerin werden, aber ich war um zwei Zentimeter zu klein für den Polizeidienst. Dass ich auch anderswo keine freie Stelle gefunden habe, hat schließlich dazu geführt, dass ich begonnen habe, Psychologie zu studieren. Das war ja eigentlich gar nicht so geplant.« Während des Studiums arbeitet Veran im psychologischen Labor einer Psychiatrie sowie auch, zwei Jahre lang, in der Privatpraxis einer Kinderpsychologin, wo sie die Arbeit mit legasthenischen Kindern kennenlernt. »Dort gefiel es mir sehr. Für meine Dissertation musste ich zu Forschungszwecken allerdings wieder zurück in den psychiatrischen Bereich. Unter anderem habe ich auch in Steinhof geforscht, und zwar mit Schlaganfallpatient:innen, deren Sprachzentrum so beeinträchtigt war, dass man sie auf den ersten Blick für minderbegabt gehalten hätte. Wenn man sich aber Zeit nahm, war offensichtlich, dass sie intelligent waren und sich nur nicht artikulieren konnten.« Diese Erfahrungen prägen die Studentin. Fortan wird sich Traude Veran für Menschen einsetzen, denen aufgrund einer Beeinträchtigung jene Chancen verwehrt bleiben, die für andere selbstverständlich sind. Doch ganz so geradlinig ist ihr Berufsweg nicht. »Nach meiner Promotion kam ich in einem Industriebetrieb unter. An und für sich hätte ich dort als Unterstützung des Prokuristen tätig sein sollen, es stellte sich aber bald heraus, dass ich die Allerletzte der Schreibkräfte war.« Veran schmunzelt. »Wahrscheinlich hatte man ein bisschen Angst vor meinem Doktortitel. Mein Mann und ich haben dann beschlossen, dass jetzt vielleicht die passende Zeit für mich sei, Mutter zu werden.« Traude Verans Berufslaufbahn – sie ist ein Flickenteppich, wie der vieler Frauen ihrer Generation. Kaum wo angekommen, musste sie auch schon wieder aufhören. »Ich hatte ja bald zwei Kinder und dann noch zwei Großmütter sowie eine Urgroßmutter zu umsorgen, auch mein Mann brauchte mich sehr«, erinnert sie sich. Veran (verh. Gertraud Schleichert) lebt mit ihrem Mann zehn Jahre in Deutschland. In dieser Zeit ist sie unter anderem auch Lehrbeauftragte an der Universität Konstanz. »Nach meiner Scheidung habe ich abermals nach einer Stelle gesucht, in Deutschland jedoch keine gefunden. Also habe ich geschaut, was es in Österreich für mich gibt.« Die Leitung der Pädagogischen Akademie in St. Pölten habe sie damals besonders interessiert. »Ich hätte die Stelle wohl auch bekommen, aber letztendlich scheiterte meine Bewerbung daran, dass ich kein Zeugnis darüber ablegen konnte, ein Instrument zu beherrschen. Und mein Klavierspiel lag damals ja auch schon 20 Jahre zurück.« Veran schenkt uns beiden vom Tee nach und erzählt mir von ihrer ersten Zeit im Burgenland. »Damals haben sie Schulpsychologinnen gesucht. Im Waldviertel, in Vorarlberg und im Burgenland waren Stellen ausgeschrieben. Vorarlberg hätte mich durchaus gereizt, aber das Schifahren konnte ich mir als alleinerziehende Mutter nicht mehr leisten, und ohne den Schisport macht Vorarlberg doch irgendwie keinen Sinn. Im Waldviertel wiederum war es mir zu kalt.« Sie lacht. »Ich hätte mich auch für das Nordburgenland entscheiden können, aber ich habe mich sofort ins Südburgenland verliebt.« Ein Neuanfang als Schulpsychologin also. In Oberwart, im Jahr 1976. »Die Kollegin an meiner Seite war damals noch Berufsanfängerin. Das war mein großes Glück. Erstens sah sie die Dinge schon ein bisschen anders, und zweitens brachte sie den Enthusiasmus einer Anfängerin mit. Wir waren ja nur zu zweit, ich bekam damals noch den Bezirk Jennersdorf dazu, meine Kollegin Güssing.« Die Idee, eine Integrationsklasse zu starten, habe dann bei einem Pfarrfest ihren Anfang genommen. »Auf besagtem Fest lernte ich die Sonderpädagogin Brigitte Leimstättner kennen. Ihr Freund war der burgenländische Schriftsteller Peter Wagner. Mit den beiden entstand schließlich eine Freundschaft fürs Leben. Jedenfalls haben wir uns auf diesem Pfarrfest über die Integration von behinderten Kindern in Regelschulen unterhalten, diese Klassen gab es in anderen Ländern ja schon. Und dann ergab sich schnell der Wunsch, sich das genauer anzuschauen und auch etwas in diese Richtung zu wagen.« Freilich, die Eltern der betroffenen Kinder habe man schnell für die Idee gewinnen können. Aber die anderen überzeugen? Das war in Oberwart Anfang der 1980er-Jahre eine Herausforderung. »Selbst ich galt damals nicht als ›normale‹ Mutter. Ich war geschieden; während meine Tochter bei mir lebte, ist mein 15-jähriger Sohn in Deutschland geblieben. Das haben damals viele nicht verstanden. Eine unserer Mitstreiterinnen wiederum war mit einem Nordafrikaner verheiratet. Andere Sprachen war man im Burgenland gewohnt, aber es ging doch immer auch darum, woher man kam.« Wie schafft man es gegen alle Vorbehalte der Menschen und der Politik, die erste Integrationsklasse zu eröffnen – und am Ende sogar dafür zu sorgen, dass ein Gesetz verabschiedet wird? Traude Veran lächelt verschmitzt. »Wir haben damals einen Schulversuch ausgearbeitet. Anfangs noch sehr laienhaft, haben uns selbst mit unseren Vornamen vorgestellt. Neun Mal mussten wir den Plan insgesamt umschreiben, wobei man wissen muss, dass wir das Papier am Ende immer wegen Formfehlern zurückbekamen. Irgendwie hatten wir da schon das Gefühl: Man will das einfach nicht haben. Zum Glück war der damalige burgenländische Landeshauptmann sehr offen für neue Ideen. Und unsere Idee empfand er als besonders merkwürdig. Also hat er sich das angeschaut. Nachdem er z.B. ein hörbehindertes Kind kennen gelernt hatte, das obendrein als verhaltensauffällig galt, war er überzeugt. Also hat er sich für unsere Idee stark gemacht.« Von der ersten Integrationsklasse bis zur Rechtschreibreform 1984 wurde in Oberwart die erste Integrationsklasse eröffnet. An dem Projekt beteiligten sich insgesamt zwei Psychologinnen, zwei Lehrerinnen sowie eine Physiotherapeutin. Und natürlich die Kinder und ihre Eltern. Bereits 1985 fand dann das erste Symposium statt, mit insgesamt 300 Besucher:innen. »Das haben eine Wirtin und eine Servierkraft für uns organisiert. Vor allem die Servierkraft muss ich hier erwähnen, sie hatte es nie leicht im Ort, war obendrein mit einem Afrikaner verheiratet. Da begegneten ihr allerlei Vorurteile, und ein behindertes Kind hatte sie dann auch noch. Die Organisation des Symposiums hat ihr Aufwind gegeben, sie hat sich richtig reingehängt, kommuniziert, Quartiere gebucht … Später dann führte sie mit ihrem Mann sehr erfolgreich eine Disco.« Bis zur Umsetzung des Integrationsgesetzes sollte es allerdings noch dauern. »Das Problem war ja vor allem, dass zu dieser Zeit die Unterrichtsminister ständig gewechselt haben. Kaum waren wir mit jemandem in guten Gesprächen, war er oder sie auch schon wieder weg«, erinnert sich Veran. 1993 war es dann endlich soweit. Die schulische Integration im Grund- und Sekundarschulbereich wurde gesetzlich verankert. Zwei Jahre später begann ich selbst als junge, noch auszubildende Pädagogin in einem Wiener Kindergarten zu arbeiten. Die erste Gruppe, in der ich mitarbeitete, war bereits »integrativ geführt«. 1995 fühlte sich das für mich an, als hätte es das immer schon gegeben. Dabei war es damals noch nicht einmal üblich, Kinder unterschiedlichen Alters in ein und derselben Gruppe unterzubringen. Viereinhalb Jahre später, Anfang 2000, wechselte ich in den Volksschulhort. Mittlerweile waren Integrationsgruppen der Standard. Was jetzt neu für mich dazukam: Um den Kindern bei ihren Hausübungen helfen zu können, brauchte ich wieder den Duden. Die große Rechtschreibreform, die 1996 eingeführt wurde – auch an ihr hat Traude Veran einsatzfreudig, aber leider ohne große Gestaltungsmöglichkeiten, mitgewirkt. »Meine Zeit im Burgenland endete, als meine Mutter an Demenz erkrankte. Irgendwann war klar, dass ich sie nicht mehr so lange allein lassen konnte, also musste ich zurück nach Wien«, erinnert sich Veran. Wieder eine neue Station – und wieder wird Veran ihre Fußabdrücke hinterlassen. Eine zufällige Begegnung mit Prof. Ernst Pacolt und ihre Frage, wie es denn mit der Rechtschreibreform vorangehe, bewirkte, dass man sie selbst mit ins Boot holte. »Ich hatte durch mein Studium der Sprachpsychologie und Linguistik ja eine Ahnung von der Materie, und durch meine Arbeit mit Kindern, die eine Rechtschreibschwäche hatten, konnte ich auch den praktischen Aspekt gut einschätzen.« Heute meint Veran schmunzelnd: »Hätte es die DDR damals noch länger gegeben, wäre die Reform wahrscheinlich schneller durchgesetzt worden. In der Schweiz und in der DDR war man der Reform gegenüber nämlich am meisten aufgeschlossen.« Die Literatur der Traude Veran Kann man die Schriftstellerin von der Psychologin und Sprachwissenschaftlerin trennen? Jedes Werk sollte natürlich auch immer für sich stehen dürfen – ohne dass Lesende sich mit der Biografie der Verfasserin auseinandersetzen müssen. Verans Gedichte sind selbsterklärend. Da gibt es die »Pendlerlieder« [2] , die in jener Zeit entstanden, als Traude Veran im Burgenland arbeitete. 2005 erschien »Gras gesät auf den Asphalt. Gedichte aus dem Berufsleben« [3] . »Das war dann schon zu einer Zeit, als mir ein bisschen die Luft ausging«, gesteht Veran. Dazwischen veröffentlicht sie unter anderem Gedichte über die Liebe (»Efeublüten« [4] ), Gedichte aus Namensanagrammen (»Letternfilter« [5] ) oder auch Collagen aus der Tageszeitung »Der Standard« (»stand ART « [6] ). 1997 erscheint »So gern ich Wien hab – an sich« [7] , ein Jahr später folgt »Vertrackte Kontakte. Limericks aus Wien« [8] . Beide Bände, die von Hermann Serient illustriert wurden, sind ein wunderbar sprachverspielter, aber auch sozialkritischer Streifzug in das Wien am Ende des vorigen Jahrtausends. Anfang der 1990er-Jahre gründet Veran gemeinsam mit Petra Sela die Edition Doppelpunkt, in dieser Zeit entstehen auch erste literarische Einzelpublikationen. Verans Sprache wird selbst im Dialekt niemals wirklich derb. »gee nebm mia und sei schdüü / i biddi sog nix / ollaweu de rederei / gee nebm mia üwad schdrossn /und schau ob ka auto kummd / und hoidmi zuck waun ans kummd« beginnt eines ihrer Gedichte in »So gern ich Wien hab – an sich«. Es sind Gedichte, deren Inhalt sich erst nach und nach entfaltet – man weiß nicht immer gleich, was die nächste Zeile bringen wird. Da geht es etwa um die Angst, fortgeschickt zu werden. Um die Einsamkeit, wenn man nach Hause kommt und über die Patschen fliegt, die einem am Morgen von den Füßen gerutscht sind. Aber auch um die Wiener Gassennamen geht es, und auch politische Gedichte finden sich in dem Band, der nicht nur neue, sondern auch die älteren Texte von Veran zusammenfasst. 1998 folgt der Band »Mein Gott Österreich. politische Lyrik und subversive Monologe« [9] . In dem Buch findet sich unter anderem eine – 1983 verfasste – Antwort auf Ernst Jandls »schtzngrmm«. Nicht lustig sei es für sie, nicht lautmalerisch, meint Veran in ihrer Replik »es erinnert mich an die sauberen knochen / die wir weggeschleppt haben / aus dem schubertpark / aus dem aushub von splittergräben«. 1999 dann die nächste Sammlung mit politischen Gedichten (»Gegenstimme« [10] ). Veran nimmt sich in ihrer Lyrik kein Blatt vor den Mund. Sie schreibt dagegen, »wenn zackige lieder / einigkeit demonstriern« [11] , auch macht sie sich Gedanken über Unterschiede im Sprachgebrauch, in dem 1988 zwar etwa schon von »UNSEREN jüdischen MITBÜRGERN« die Rede war, aber noch immer von »behinderten MENSCHEN«, während man »im Zusammenhang mit dem Adjektiv SLOWENISCH« die Ausdrücke »MITBÜRGER, MITMENSCH oder MENSCH« in Kärnten kaum hörte [12] . Die meisten von Verans politischen Gedichten sind noch immer noch von großer Relevanz – gerade heute, gerade jetzt, wo wieder von der »politischen Mitte« gesprochen wird, der Veran bereits Weihnachten 1984 ein Gedicht widmete [13] . Der Dialekt bzw. die Wiener Färbung sind Teil von Verans Schreiben. Man findet sie in ihren frühen Gedichten ebenso wie in Publikationen der jüngeren Zeit. (2021 etwa übersetzte sie unter dem Titel »Radln auf Wegaln« [14] Pitt Büerkens »Pättkesfahrt« [15] aus dem Plattdeutschen ins Wienerische.) Wie sie überhaupt dazu gekommen sei, im Dialekt zu schreiben? Traude Verans Augen blitzen mir begeistert entgegen. »Sagt dir The Worried Men Skiffle Group etwas? Als ich die damals das erste Mal hörte, hatte ich das Gefühl: Jetzt ist unsere Muttersprache auch eine echte Sprache. Für mich war diese Gruppe ein Stern am Himmel!« Am Ende meines Besuches holt Veran einen dicken Ordner aus dem Regal. Gemeinsam reisen wir in das Jahr der ersten Morgenschtean-Herausgabe (1989) und noch ein bisschen weiter zurück. »Ich weiß gar nicht, wie ich damals von der Gründung der Ö.D.A. erfahren habe. Ob aus dem Fernsehen oder vielleicht doch von Erich Schirhuber. Ich habe von 1986 an drei Jahre lang an den Arbeitstagen der Mundartdichter in Kirchbach/Kärnten teilgenommen, ich kannte die Szene also ein wenig. An die Veranstaltungen dort denke ich besonders gerne zurück. Die Lesungen fanden auch auf Bauernhöfen statt und waren gut besucht, und man begegnete vielen anderen Menschen, die sich für die Dialektliteratur engagierten. Ich habe ja dann auch schon recht früh begonnen, im Morgenschtean meine Dialektgedichte zu publizieren.« Sich nicht bremsen lassen Traude Veran hat es stets gereizt, Neues auszuprobieren. Ihre Lyrik hat sich immer wieder gewandelt und neu erfunden; auch mit dem Medium Hörbuch [16] hat sich die Autorin auseinandergesetzt. Mitten unter diesen vielfältigen Publikationen findet sich auch ein schmaler rosa Gedichtband. In »Cindy.Erinnerungen« [17] widmet Traude Veran ihre Gedichte ihrer verstorbenen Hündin. In Verans Schreiben darf alles nebeneinander existieren. Da hat das Private neben dem Politischen Platz. Das persönliche Tagebuch neben dem preisgekrönten Gedichtband. Das gebundene Sachbuch, das in einem namhaften Verlag erschienen ist, neben der selbst gedruckten Broschüre. So manches Mal blies ihr deswegen auch ein rauer Wind entgegen. »Manche sehen ja auf einen herab, wenn man Projekte selbst oder nur mit einem sehr kleinen Verlag verwirklicht. Aber auf diese Menschen darf man nicht hören, auch wenn es natürlich weh tut«, rät Veran. Sich nicht von den eignen Vorhaben abhalten lassen, das war immer schon Traude Verans Credo – egal, ob es um das Integrationsgesetz oder um ihre Literatur ging. Auch die Österreichische Haiku-Gesellschaft hat Veran mitbegründet; heute ist sie Ehrenmitglied. Bei unserer Verabschiedung überreicht sie mir ihre letzte Publikation. Der schmale Haiku-Band »Das Chinesische Jahr« [18] mit der Nachdichtung alter chinesischer Weisheiten erschien voriges Jahr. Auch »Haiku schreiben – ein Weg der nie endet« [19] mit Silbenspielen und Versuchen über das Haiku von 1981-2021 ist gerade einmal vor einem Jahr erschienen.Danach folgten zwei weitere Publikationen. »Meine letzten«, wie Traude Veran verrät. »Das heißt aber nicht, dass ich aufhöre zu schreiben!« [20,21] Während der Fahrt über den Semmering krame ich in meinem Koffer. Ich habe Glück – neben mir sitzt niemand, so dass ich Verans Werke alle auf einmal hervorziehen kann. Vor allem ihre politischen Gedichte und ihre Wien-Limericks haben es mir angetan, aber auch die selbst gebundene Publikation »Wassertropfen, Wasserleitung, Wasserfall« [22] ] gefällt mir sehr – und das Vorwort entlockt mir mitten auf der Strecke ein so lautes Lachen, dass man sich nach mir umdreht. Als ich am Grazer Hauptbahnhof wieder aussteige, um in den Bus nach Hause umzusteigen, denke ich: Vielleicht sollten wir alle ein bisschen mehr sein wie Traude Veran und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wenn es etwas (noch) nicht gibt, von dem wir meinen, dass es die Welt ein Stück besser macht, können wir uns immer auch ein wenig selbst darum kümmern. Wie sagte Doris Lessing angeblich einst: »Whatever you’re meant to do, do it now. The conditions are always impossible.« Margarita Puntigam-Kinstner, mit Dank an Traude Veran für das Gespräch ____________________ 1 Traude Veran: Das steinerne Archiv – Der Wiener jüdische Friedhof in der Rossau , Mandelbaum Verlag, Wien 2002, 20. Auflage 2006 2 Gertraud Schleichert: Pendlerlieder. Gedichte aus dem Burgenland. Mit Federzeichnungen von Hermann Serient. Edition Doppelpunkt, Wien 1993 3 Traude Veran: Gras gesät auf den Asphalt. Gedichte aus dem Berufsleben. Cornelia-Goethe-Verlag, Frankfurt am Main 2005 4 Gertraud Schleichert: Efeublüten. Gedichte über die Liebe 1953–1993. Mit Federzeichnungen von Ingrid Kerzina. Edition Doppelpunkt, Wien 1994 5 Gertraud Schleichert: Letternfilter. Gedichte aus Namensanagrammen von Gran Mama . Reihe „Ausser der Reihe“, Edition Doppelpunkt, Wien 1994 6 Gertraud Schleichert: standART. Collagen aus der Tageszeitung »Der Standard «. 30 Tagesseiten. Reihe »Ausser der Reihe«, Edition Doppelpunkt, Wien 1996 7 Traude Veran: So gern ich Wien hab – an sich. Wiener Klangfarben. Mit Federzeichnungen von Hermann Serient. Edition Doppelpunkt, Wien 1997 8 Traude Veran: Vertrackte Kontakte. Limericks . Mit Federzeichnungen von Hermann Serient. Uhudla Edition, Wien 1998 9 Traude Veran: Mein Gott Österreich. Politische Lyrik. Edition Doppelpunkt, Wien 1998 10 Traude Veran: Gegenstimme. Politische Lyrik und subversive Monologe. Edition Doppelpunkt, Wien 1999 11 ebd. S 54 12 ebd. S. 70/71 13 ebd. S. 55 14 Pitt Büerken, Traude Veran: Radln auf Wegaln. Pättkesfahrt im Wiener Dialekt. Österr. Haiku Gesellschaft, Wien 2022 15 Pitt Buerken: Pättkesfahrt. Kurzgedichte in japanischer Tradition auf Münsterländer Platt und Hochdeutsch. Agenda Verlag, Münster 2021 16 Traude Veran: Ich rede in den Zungen der Sprachlosen. Sprach-CD. edition lex liszt 12, Oberwart 2019 17 Traude Veran: Cindy. Erinnerungen an einen Hund. Fotos und Zeichnungen. Lesedition, Wien 1997 18 Traude Veran: Das Chinesische Jahr. Eine Nachdichtung. Mit Kalligrafen von YU FENG, Österreichische Haiku Gesellschaft, Wien 2023 19 Traude Veran: Haiku schreiben - ein Weg der nie endet , Rotkiefer, Berlin 2023 20 Regenlicht. Haiku und Ähnliches 2020-2023. ÖHG, Wien 2023 21 Claudia Brefeld und Traude Veran: Windböen und Schattenkühle. Haiga und Tan-Renga. Rotkiefer Verlag, Berlin 2024. 22 Traude Veran: Wassertropfen, Wasserleitung, Wasserfall – eine Publikation zum Jahr des Wassers 2003 , Selbstverlag Haus Rossau, Wien 2004