Ein Schreiben, das befreit
Annemarie Regensburger feiert als Vorkämpferin der Tiroler Dialektlyrik ihren 75. Geburtstag

Saftige Almwiesen, glückliche Kühe, das Lächeln in Lederhosen – und dazwischen das Elend der Anderen, die einzementierte Ungerechtigkeit, das eiserne Schweigen: Dass Dialektliteratur die kleine, große Welt in Tirol heute nicht länger nur in schöne, heimatlich-herzanrührende Worte hüllt, ist zu einem wesentlichen Teil der Schriftstellerin Annemarie Regensburger zu verdanken. Sie feiert heute ihren 75. Geburtstag – und bleibt eine Ikone mit Biss.
Wenn sich g’standene Tiroler im Knödelessen messen, bleibt nichts zurück – kein Sinn, kein Zweck und erst recht kein Krümchen für die knurrenden Mägen im Abseits. Die Allermeisten zucken da landesüblich mit den Schultern. Andere aber, die zücken die Feder: So wie Annemarie Regensburger, deren Gedicht über dieses Fressen weit vor jeglicher Moral am 6. November 1980 allerorts aneckt, aufregt und aufweckt – im verschlafenen Städtchen Imst, wo die Schemen einst zu laufen gelernt haben und der Schatten seit jeher verbirgt, wie wir wirklich sind.

Gesprengte Ketten im stillen Kämmerlein
Für einen Moment ans Licht gezerrt hat‘s diese allererste Veröffentlichung einer 32-Jährigen. „Schon noch ein wenig holprig“, sagt sie und schmunzelt heute über diese ersten Verse, diese ersten Schritte, die rund 40 Jahre später zum renommierten Otto-Grünmandl-Preis führen werden.
Davor stehen aber allerlei weitere Preise, zahllose Veröffentlichungen und mehrere Bücher, rund 800 Lesungen und überhaupt eben ein ganzes Leben, von dem Annemarie Regensburger in ihrer Autobiographie erzählt. „Gewachsen im Schatten“ ist dabei nicht nur gewählter Titel, sondern auferlegtes Schicksal – auch für eine ganze Generation an Frauen, für die Regensburger in Tirol zur Stimme geworden hat. Die Schriftstellerin ist eine unter ihnen, gerade zu Beginn ihres Schaffens, das 1980 dort beginnt, wo niemand hinsieht: zuhause, bei den Kindern.
Um bei ihnen zu sein, gibt Regensburger weniger aus Erwartung, mehr aus der Notwendigkeit heraus ihren Beruf, ihre Stelle als Chefköchin, auf. „Zumindest so lange, bis die Kinder groß sind“, sagt sie sich damals, so wie viele Frauen. Die beginnende Erkrankung an Polyarthritis aber lässt die Rückkehr ins bisherige Berufsleben dann plötzlich in weite Ferne rücken, während die Wände näherkommen, der Nachwuchs größer und das Leben allmählich still wird.
Mit jedem Tag scheinen die Wasser der Seele so dunkler, tiefer zu werden, die Oberfläche dieses Sees kaum noch von Wellen, diesen konzentrischen Kreisen gezeichnet zu sein – bis es zu brodeln beginnt und dieses Knödel-Wettessen als Geschmacklosigkeit wieder wachruft, was da schon immer war. Diesen Zorn, dieses Aufbegehren gegen das Falsche, das selbstverständlich geworden ist, bringt die Schriftstellerin zu Papier – und bis heute hat sie nicht damit aufgehört, schreibt noch immer drei, vier Texte pro Tag. „Das Schreiben hat mir nicht nur aus dem Schatten, aus der Stille geholfen“, sagt Regensburger: „Es hat mich befreit.“
Eine Ballade bricht das Schweigen
Das hat es schon einmal, viele Jahrzehnte zuvor, als ein kleines Mädchen wortlos vor dem Grab ihrer Mutter steht. Jahrelang hatte sie zuvor als Oberhaupt der Familie mit vier Kindern einen Bauernhof am Dorfrand von Stams geführt, nachdem der Vater in die Psychiatrie gekommen ist. Sie könne sich noch genau erinnern, wie das damals war, als der Wagen vorgefahren ist und den „Tate“ mitgenommen hat, sagt Regensburger leise.
Mit Klauen und Zähnen hätte sich die Mutter danach gegen die angedrohte Pachtauflösung gewehrt, umso härter gearbeitet, die Schwielen an den Händen hinter einem Lächeln, hinter fröhlichen Witzen versteckt – bis eine Lungenembolie ihre Kinder eines Tages zu Halbwaisen machte.
Die neunjährige Annemarie wächst daraufhin bei Verwandten auf, wird im Dorf wegen der Erkrankung des Vaters als „Tochter eines Verrückten“ zur Außenseiterin, während sie versucht, das Gesicht der Mutter, ihre Güte, ihren Humor, ihren Mut im Herzen zu behalten. In der Schule fällt sie durch Scharfsinn, ihre rebellische Natur auf. Mit ihrem Schmerz aber bleibt sie allein: „Niemand wollte mit mir darüber reden – nicht über die Mutter, nicht über den Vater“, sagt Regensburger. „Ich sollte vergessen. Das habe ich aber nie.“
Deshalb steht sie als Zwölfjährige vor dem Grab ihrer Mutter: wortlos, aber nicht mit leeren Händen. Auf das Grab legt sie ihre erste, selbstgeschriebene Ballade als Erinnerung an die Mutter – und an die Wärme in ihrer Umarmung nach jedem Gedicht, das ihre Tochter ihr präsentiert hat, als sie noch am Leben war.
Weil genug für alle da ist
Vielleicht ist diese erfahrene Liebe der Grund, warum Annemarie Regensburger – heute die Grande Dame der Tiroler Dialektdichtung – nicht nur schreibt, sondern auch andere dazu ermutigt: in Schulen, in Textwerkstätten und über den „Wortraum“, den sie als Plattform für Schreibende im Tiroler Oberland gegründet hat. Heranwachsende Konkurrenz fürchte sie nicht, sagt sie und lächelt: „Weil ja genug für alle da ist, für jede und jeden.“
Diese Wahrheit treibt Regensburger wohl auch bis heute an, ihre Verse für Gerechtigkeit und Gleichheit, für Offenheit und Akzeptanz sprechen zu lassen – nicht nur, aber am liebsten im Dialekt, „weil’s die Sprache meines Herzens, meine eigentliche Muttersprache ist“, sagt sie.
Neben ihrem literarischen Schaffen hat sich Regensburger übrigens auch ins Berufsleben zurückgekämpft: nicht als Chefköchin, sondern als Erwachsenenbildnerin, um anderen – speziell Frauen – den Rücken zu stärken, ihnen Mut zu machen. Ganz ähnlich, wie ihr Ehemann Blasius im ganzen literarischen Anecken stets ihr „Fels in der Brandung“ gewesen sei: „Mit meinem wunderbaren Mann hatte ich großes Glück. Von einem solchen Glück sollte aber keine Frau, kein Mensch jemals abhängig sein“, sagt die Tiroler Dichterfürstin und Vorkämpferin für Frauenrechte, die heute ihren 75. Geburtstag feiert.
„Am Anfang hat’s mich g’rissen, auch der Gedanke an die Sterblichkeit“, sagt Annemarie Regensburger, umringt von sechs Enkelkindern, und lacht: „Langsam lerne ich aber, Ja zum Alter zu sagen. Ich bin sogar ein wenig milder geworden.“ Das sei einer streitbaren Poetin wohl ruhig vergönnt, obwohl Tirol und die Welt gewiss noch lange auf ihr Nein angewiesen wäre – damit so mancher Knödel im Hals stecken bleibt, wie er sollte.
Manuel Matt
Annemarie Regensburger wurde am 20.3. 1948 in Stams geboren und lebt heute in Imst. Sie ist seit mehr als 30 Jahren Mitglied bei Ö.D.A. Ihre Texte sind in zahlreichen Ausgaben des Morgenschtean zu lesen – auch in der kommenden, im Mai erscheinenden Nummer ist die Autorin wieder mit zwei Gedichten vertreten. Damit beweist sie, dass sie auch heute noch die Redaktionsmitglieder aller Generationen mit ihren kritischen Texten überzeugt.
Sieht man sich Regensburgers Publikationsliste an, so erkennt man schnell, dass die Autorin nicht nur eine der produktivsten, sondern auch eine der vielfältigsten Literat:innen unseres Vereins ist. Ob Hochdeutsch oder Dialekt, ob Prosa oder Lyrik, ob Biografie oder Psalm – eines ist bei Annemarie Regensburger immer Programm: die Qualität.
Dass sie trotz ihres vielfältigen Schaffens keineswegs zu jenen zählt, denen es ausschließlich um die eigenen Texte geht, davon zeugen nicht nur die Anthologien zur Förderung der Tiroler Dialektliteratur, die von Annemarie Regensburger herausgegeben wurden und zur Plattform für jüngere Generationen wurden, sondern auch die vielen Zusammenarbeiten mit Tiroler Künstler:innen diverser Sparten sowie die Mitbegründung des "wortraum plattform für oberländer autorInnen", dessen Obfrau sie lange war.
Mehr Information zur Autorin finden Sie unter: annemarieregensburger.at
Die Ö.D.A. gratuliert Annemarie Regensburger herzlich zum 75 Geburtstag!
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